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Preisträgerin Seierstad: "Ich dokumentiere und rekonstruiere und liefere eine Erzählung zu dem, was ich mithilfe von Fakten, Dokumenten und Interviews herausgefunden habe."

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Åsne Seierstad: "Einer von uns. Die Geschichte eines Massenmörders", Übers. v. Frank Zuber und Nora Pröfrock, €26,80 / 544 Seiten, Zürich: Kein & Aber 2016.

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STANDARD: Sie werden am 12. März mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet – für Ihr Buch über Anders Breivik, der 2011 die furchtbaren Anschläge in Norwegen zu verantworten hatte, bei denen 77 Menschen ums Leben kamen.

Seierstad: Mein Buch handelt nicht nur von Breivik, dem rechtsradikalen Massenmörder, der sich mit seiner Tat gegen europäische Werte gestellt hat, sondern vor allem von den jungen Menschen der Arbeiterpartei, die auf der Insel Utøya umgebracht wurden, weil sie für Werte wie Toleranz, Gleichheit, Gerechtigkeit und Vielfalt einstanden. Es handelt auch von Norwegen und der Art und Weise, wie es versucht, mit dem Trauma dieses Ereignisses umzugehen, wie es versucht, sich zu heilen, aus der Schockstarre zu finden und nach dieser Attacke eine Zukunft zu schaffen, die nicht verbittert ist oder als Reaktion demokratische Freiheiten einschränkt. Breivik und die Geschichte seiner Radikalisierung sind also nur ein Teil des Buches. Das ist mir wichtig zu betonen.

STANDARD: Erhalten Sie den Preis auch, weil Sie mit Ihren Büchern versuchen, den europäischen Ängsten vor dem islamistischen und rechtsradikalen Terrorismus auf den Grund zu gehen?

Seierstad: Ich kann nicht sagen, warum sich die Jury für mich entschieden hat. Natürlich ist Breivik jemand, der europäische Ideale ablehnt und damit die Ängste eines Mainstreams befeuert, der liberal denkt. Auch in meinem Buch Zwei Schwestern sind es junge Mädchen, die aus einer Familie stammen, die aus Somalia nach Norwegen gekommen ist, und die sich in ihrem islamischen Glauben radikalisieren und schließlich nach Syrien reisen, um sich dem IS anzuschließen. In beiden Fällen haben wir es mit Menschen zu tun, die aus unterschiedlichen Gründen die Idee einer liberalen Gesellschaft ablehnen und diejenigen, die diese propagieren, vernichten wollen. In den Taten und dem extremen Gedankengut dieser jungen Leute spiegelt sich die Kritik einer extremen Rechten wider, die Europa für zu offenherzig hält, und diejenige des Islamismus, der das christliche Europa und den Westen für moralisch degeneriert und für einen Aggressor hält.

STANDARD: Sind der Rechtsradikalismus und der islamische Terrorismus zwei Seiten einer Medaille?

Seierstad: Sowohl Breiviks Ideologie als auch die des IS haben ihre Wurzeln im Faschismus. Beide wollen die Toleranten beziehungsweise die Ungläubigen umbringen. Beide eint der Hass auf Frauen, ein übersteigerter Märtyrergedanke und der Hunger nach Macht. Beide argumentieren mit einem überhöhten Ehrbegriff. Beide streben mit den Mitteln des Terrorismus nach einer Polarisierung der demokratischen Gesellschaften, in denen die Grautöne einer liberalen Meinungsbildung mehr und mehr verschwinden sollen. Der Rechtsterrorismus und der Islamismus sind, wenn man so will, die perfekten Feinde, die sich gegenseitig stark machen. Deswegen ist es wichtig, dass wir uns auf die Werte der offenen Demokratie berufen und sie durch unsere Stimmen stark machen.

STANDARD: Warum aber radikalisieren sich manche Jugendliche?

Seierstad: Mich hat die Frage interessiert, warum sich eine Minderheit von dem Versprechen von Gerechtigkeit und Toleranz so angewidert abwendet und bereit ist, auch Gewalt gegen diejenigen einzusetzen, die das verkörpern. Die Gründe für diese Radikalisierungen sind komplex und vielschichtig. Es geht in beiden Fällen um Anerkennung, Identität, um Rebellion und die Suche nach Gemeinschaft – die Grundthemen des Erwachsenenwerdens. Aber es wird nicht jeder, der wie Breivik eine schwierige Kindheit hatte, zum Massenmörder, und nicht jeder geht zum IS. Bei Breivik war es das Internet, wo er seine Ideologie radikalisierte. Allerdings war seine Tat so extrem, dass sich bis jetzt keine Nachahmer fanden. Er ist eher der einsame Wolf. Psychologisch gibt es kaum Ähnlichkeiten zu den Mädchen, die einem Trend folgten. Bei ihnen war es ein Koran-Lehrer, der die Basis für die Radikalisierung legte, was die Eltern der beiden erst im Nachhinein erfuhren. Das Ausmaß der Radikalisierung bei den Kindern, die beide klug waren, blieb den Eltern verborgen.

STANDARD: Sie liefern keine einfachen Antworten auf die Frage nach dem Weg in die Radikalisierung. Ist das Ihre Art und Weise, denjenigen, die nach einfachen Antworten verlangen, zu entgegnen: Die gibt es nicht.

Seierstad: Ja, ich dokumentiere und rekonstruiere und liefere eine Erzählung zu dem, was ich mithilfe von Fakten, Dokumenten und Interviews herausgefunden habe. So entsteht eine roman-hafte Erzählung. Eine Erklärung oder Beurteilung liefere ich nicht. Die Leser müssen die Teile eines komplexen Puzzles selbst zusammenfügen und eigene Schlüsse ziehen. Radikalisierungen entwickeln sich in vielen kleinen Schritten. Und nicht immer ist der nächste Schritt aus dem vorangegangenen rational erklärbar. Wir müssen uns von dem Gedanken verabschieden, dass wir alle mit den Vorzügen der liberalen Demokratie erreichen. Wir können aber lernen zu erkennen, wann und warum sich manche einem extremen Gedankengut zuwenden.

STANDARD: Bis zu Ihren beiden Büchern über Breivik und "Zwei Schwestern" waren Sie als Reporterin in Kriegsgebieten unterwegs. Haben Sie das Gefühl, dass die Konflikte der Welt näher an Sie herangerückt sind?

Seierstad: Bis zum Jahr 2011 war Norwegen für mich tatsächlich ein Rückzugsort, ein friedlicher Ort, wo ich mich nach den Reisen in die krisengeschüttelten Länder erholen konnte. Das hat sich mit Breiviks Anschlag radikal verändert. Norwegen hat ein Stück Unschuld verloren, und die Schwingungen der globalen Konflikte, die sonst weit weg waren, reichen nun bis in meine Heimat. Für mich als Reporterin, die in gewisser Weise von gesellschaftlichen Konfliktlinien lebt, ist dies – wenn man so will – ein tragischer Glücksfall.

STANDARD: Breivik war früher Funktionär der rechtspopulistischen Fortschrittspartei, die seit 2013 in unterschiedlichen Konstellationen an Regierungen beteiligt ist. Diese Partei hat im Zuge der Aufarbeitung von Breiviks Tat nicht an Popularität verloren.

Seierstad: Allgemein wird Breiviks schreckliche Tat von den Norwegern nicht mit der Fortschrittspartei in Verbindung gebracht. Er selbst hat die Partei ja auch verlassen, weil sie ihm nicht radikal genug war. Für Außenstehende ist das sicher nicht leicht zu verstehen. Aber die Fortschrittspartei wird bei uns zwar als eine gemäßigte rechte Partei gesehen, sie ist aber keine, die ihre Wurzeln in einem historischen Rechtsextremismus hat.

STANDARD: Welche Schlüsse hat Norwegen denn gezogen?

Seierstad: Man kann als Elternteil, Lehrer, Mitschüler oder Freundin seine Sensibilität trainieren, um anhand von Äußerungen oder auffälligen Verhaltensweisen eine mögliche Radikalisierung zu erkennen. Zuhören ist ein wichtiges Stichwort. Nichts anderes tue ich als Reporterin. Ich denke, dass in Norwegen das Zusammenspiel zwischen Sozialarbeitern, Polizei, Schulen und Familien in dieser Hinsicht besser geworden ist. Es gibt auch Antiradikalisierungskurse, die helfen, bestimmte Entwicklungen bei Kindern besser erkennen zu können. Eine Garantie für den Erfolg gibt es nicht. Aber der Vater der beiden Schwestern, die bis heute beim IS in Syrien geblieben sind und dort Kinder zur Welt gebracht haben, ist schließlich genau aus diesem Grund zu mir gekommen: Er wollte, dass ich seine Geschichte und die seiner Töchter aufschreibe, damit sich eine ähnlich tragische Geschichte nicht bei anderen wiederholt. (Ingo Petz, 3.3.2018)