Frauen in Algier: Schwarzer fürchtet die Bedrohung von Frauenrechten durch den Islam.

Foto: Bettina Flitner

Alice Schwarzer, "Meine algerische Familie". € 22,70 / 240 Seiten. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2018

Vor 28 Jahren lernte die deutsche Publizistin und Feministin Alice Schwarzer die algerische Journalistin Djamila bei einem Seminar in Tunis für Journalistinnen aus Nordafrika kennen. Später, in den 1990er-Jahren, ging Djamila nach Köln ins Exil, wo Schwarzer seit Jahrzehnten ihre Zeitschrift Emma leitet. Djamilas Familie kam zu Besuch, Schwarzer freundete sich auch mit der Familie an und machte sie für das eben erschienene Buch zu "ihrer" algerischen Familie. 2016 und 2017 reiste Schwarzer mit der Fotografin Bettina Flitner nach Algerien, um die Geschichten von Djamilas Schwestern, Neffen oder Onkeln und damit auch die Geschichte eines von Kolonialherrschaft und Bürgerkrieg verwundeten Landes zu erzählen.

Schwarzer folgt damit auch einem Thema, das sie seit einer Reise in den Iran 1979 nicht mehr loslässt: die Bedrohung von Frauenrechten durch den fundamentalistischen Islam. Beschränkung des Scheidungsrechts, Polygamie und Kopftuchzwang brachte die islamische Revolution den Iranerinnen, die aktuell wieder besonders laut gegen das Kopftuchgebot aufbegehren – und dafür zu Dutzenden verhaftet werden. Seit dieser Reise und den dort beobachteten Rückschritten für Frauen warnt Schwarzer vor "falscher Toleranz" gegenüber fundamentalistischen Tendenzen, die ihrer Analyse nach mit dem Kopftuch bereits einen Fuß in der Tür haben, auch in westlichen Ländern.

Nicht ohne Alice

Diese Botschaft, für die Schwarzer auf ihren Emma-Seiten schon mal Untergriffe auf Frauen mit Kopftuch zulässt, durchzieht auch ihr Buch Meine algerische Familie. Nachdem 1991 die ersten freien Wahlen, deren ersten Durchgang die Islamische Heilsarmee (FIS) gewann, von der Armee unterbrochen worden waren, gingen Islamisten in den bewaffneten Untergrund und kämpften von dort aus für einen "Gottesstaat". Der Bürgerkrieg brach los und kostete zwischen 100.000 und 200.000 Menschen das Leben.

Djamila (65) und andere Familienmitglieder erzählen im Buch von den Ereignissen damals und wie sie das Heute beeinflussen. Früher, erzählen fast alle, wurde zu Hause gebetet, weil Religion eben Privatsache war, fertig. Alkohol war kein Tabu, doch heute wird er praktisch in keinem Restaurant in Algier ausgeschenkt. Schwarzer will in vielen Textabschnitten das alles in den Worten der algerischen Familie belassen, "Djamila spricht" oder "Zohra spricht", heißt es dann. Aber "Alice" bleibt auch dann präsent, wie bei allen von Alice Schwarzer porträtierten Figuren. Und zwar indem sie "Alice" zwischen ihren Erzählungen sehr oft persönlich ansprechen. Ein unangenehmer Kniff in Schwarzers Texten, der immer wieder daran zweifeln lässt, ob es letztendlich nicht doch vor allem Schwarzers Perspektive ist, die hier erzählt werden will, nicht die der Porträtierten.

Frei und unfrei

"Es ist verrückt, Alice, woran man heute in Algerien erkennt, wer wo politisch steht. Am Alkohol und am Kopftuch", beginnt etwa Djamila ihre Schilderungen über ein Algerien, in dem ihre Mutter noch Analphabetin war, zehn Kinder gebar, und noch zwei ihrer Schwestern Männer heiraten mussten, die sie erst am Tag ihrer Hochzeit zum ersten Mal sahen. Djamila selbst konnte studieren und brachte es bis zur Chefin der algerischen Presseagentur APS, die sie über 25 Jahr leitete. Sie erzählt vom Klima der Angst, "mit den Journalisten fingen sie an", sagt sie über den Terror durch Islamisten. "In Algerien herrschten in den 90er-Jahren Verhältnisse wie heute in Syrien. Aber keiner wollte es wahrhaben", erzählt sie. "Wir waren allein. Erinnerst du dich, Alice? In der Zeit hast du jeden Abend angerufen: ob ich noch lebe."

Djamilas Schwester Zohra, 68, musste ihren Beruf aufgeben, als sie heiratete und Kinder bekam, ihr Mann wollte es so. Bei allen Opfern, die sie der patriarchalen Kultur wegen bis heute bringen muss, ist ein Leben ohne Kopftuch für sie ein Akt des Widerstandes geworden. Das Leben in der traditionellen Frauenrolle ihrer Generation hatte aber seinen Preis, heute, mit 50, leidet sie an Depressionen, sie geht kaum noch außer Haus. "Bei uns haben die Männer alle Rechte, Alice", sagt Zohra und erzählt, einer Bekannten wäre kürzlich "der Mann gestorben. Da war sie 80. Sie hat ihm aufs Grab gepinkelt."

Die lustige Vollverschleierte

Lebensgeschichten wie die Zohras spiegeln eine Generation, die, bevor sie noch die Chance auf Fortschritt bekommen hätte, von Krieg und Terror eingeholt wurde. Durch Geschichten wie die von Zohras kommt mehr Komplexität in die vereinfachte Sichtweise, verschleiert sei unfrei, unverschleiert frei. Immerhin lässt sich auch Schwarzer zu Grautönen hinreißen, etwa als sie von einer Hochzeit erzählt, auf der vom "Dekolleté bis zum Hidschab" alles getragen wird und die "leidenschaftlichste Tänzerin" des Festes gar eine "kleine, runde Vollverschleierte" ist. Und Schwarzer hält fest: "Es ist gar nicht so einfach in Algerien mit den Schubladen." Ach ja? (Beate Hausbichler, 3.3.2018)