Die Getreuen der Kanzlerin trugen beim CDU-Parteitag "Merkel forever" Buttons.

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Im Spektakel rund um die Gespräche zur Bildung einer neuen Koalitionsregierung in Deutschland wird deutlich, wo die Unzufriedenheit der Wähler herkommt. Machtspiele, Kirchturmpolitik und Kompromisse ohne vorherige öffentliche Debatte dokumentieren die Abkopplung der großen deutschen Parteien von der Wählerschaft – was diese den Populisten geradezu in die Arme treibt.

Aufwind für Randgruppen

Entsprechend erfahren politische Randgruppen einen Aufschwung. Die Alternative für Deutschland und Die Linke besetzen zusammen etwa ein Viertel der Sitze im Bundestag. Die sich derzeit konstituierende "große Koalition" hält nur wenig mehr als 50 Prozent der Sitze, deutlich weniger als in den beiden vorhergehenden Legislaturperioden.

Insbesondere die AfD kann ihr Glück kaum fassen. Eine Partei mit fragwürdigem Verhältnis zur Demokratie wird wohl die größte Oppositionsfraktion im Bundestag stellen. Bedenkt man, dass sie erstmals überhaupt im Parlament vertreten ist, erfüllen sich damit ihre kühnsten Träume.

Sollte eine Koalition aus CDU/CSU und SPD wie erwartet das Ruder übernehmen, hätte der Bundestag unseres wohlhabenden und wirtschaftlich stabilen Landes mit derselben Spaltung zu kämpfen, die schon in anderen Ländern zu einer Schwächung der Demokratie geführt hat – entstanden durch die Verschiebung der Macht an die Ränder einhergehend mit dem Schrumpfen der politischen Mitte. So bereits geschehen in den Vereinigten Staaten, wo das Hervortreten extremerer Stimmen die Kooperation zwischen Republikanern und Demokraten untergraben hat, wie auch im Vereinigten Königreich, den Niederlanden und Belgien.

Dies bedeutet nicht, dass der Bundestag plötzlich ebenso funktionsunfähig wird, wie dies derzeit beim Kongress der Vereinigten Staaten der Fall ist. Aber der Samen für die Lähmung der Demokratie wird derzeit gesät.

Politik der verschlossenen Türen

In mancher Hinsicht hat sich diese Situation schon seit langem angekündigt. Schon unter früheren großen Koalitionen war der Bundestag nicht so sehr Ort der offenen Diskussion unterschiedlicher Standpunkte und des Ringens um Ergebnisse als vielmehr eine Gesetzgebungsmaschine. Der 167 Seiten starke Koalitionsvertrag, der die Agenda der künftigen Regierung bemerkenswert detailliert darlegt, lässt erwarten, dass sich die Regierungstätigkeit in den kommenden vier Jahren erneut darauf beschränken wird, bereits getroffene politische Entscheidungen gesetzgeberisch umzusetzen, statt Verhandlungen und Überlegungen zu öffentlichen Belangen zu fördern.

Diese Politik der verschlossenen Türen hat die Spaltung zwischen politischer Klasse und Wählern verstärkt. Für diese Entwicklung gibt es zwei Ursachen: die gestiegene Bedeutung von Koalitionsvereinbarungen und das sich verändernde Parteiensystem.

Eine Koalitionsvereinbarung, die einige der wichtigsten Themen für die kommende Legislaturperiode darlegt, wurde erstmals in den frühen 1960er-Jahren zwischen der CDU und der FDP geschlossen. Es wurde ein Koalitionsausschuss gebildet, der sicherstellen sollte, dass die vereinbarten Maßnahmen im Parlament durchgingen.

Mit der Zeit wurden derartige Vereinbarungen immer detaillierter und komplexer; was zunächst ein Leitfaden gewesen war, wurde nun zum Vertrag. Unterdessen gewann der Koalitionsausschuss hinter den Kulissen immer mehr an Macht. Diese Entwicklungen wurden, obwohl umstritten, niemals grundsätzlich infrage gestellt; im Gegenteil, sie sind zum absoluten Muss deutscher Politik geworden. Im Bundestag steht daher nicht mehr die Debatte im Mittelpunkt, sondern die gesetzgeberische Umsetzung bereits getroffener Entscheidungen.

Bis vor einigen Jahren war diese Schwerpunktverlagerung für den Bundestag nicht übermäßig problematisch. Aber die großen Parteien haben in jüngster Zeit ihren festen Halt in den örtlichen Gemeinden verloren, wo CDU/CSU und SPD heute deutlich geringere Mitgliederzahlen aufweisen. Dies führt dazu, dass Entscheidungen zunehmend losgelöst vom Willen der Menschen getroffen werden.

Abstimmung über Koalitionsvertrag

Die Spitzen von CDU und CSU, die nicht an ein Mitgliedervotum gebunden sind, haben bereits ihre Zustimmung zum Verhandlungsergebnis signalisiert. Man möchte nun hoffen, dass die Mitglieder der SPD, die bis zum 2. März über den Koalitionsvertrag abstimmen sollten, diesen ablehnen. Ein Scheitern des Vertrages würde wahrscheinlich zu größerer politischer Instabilität führen, aber es würde letztlich die Demokratie stärken.

Fällt der Vertrag durch, könnte es Neuwahlen in Deutschland geben – sicherlich eine riskante Option, da nach jüngsten Umfragen die AfD einen noch größeren Stimmenanteil gewinnen könnte, während CDU und SPD mit Stimmenverlusten rechnen müssten. Alternativ hierzu könnte Angela Merkel eine Minderheitsregierung führen – die erste in der fast siebzigjährigen Geschichte der Bundesrepublik. Diese Regierung müsste jeden Politikvorschlag zur parlamentarischen Debatte vorlegen – freilich mit dem Risiko, blockiert zu werden.

Unter einer Minderheitsregierung könnte jede Debatte zum Fall der Regierung führen. Dennoch könnte dies bei vielen weniger umstrittenen Vorschlägen gut funktionieren und eine neue Tradition fließender statt fester Koalitionen begründen. Im Laufe der Zeit könnte ein solches Arrangement große Vorteile bieten, ja sogar zu institutionellen Innovationen führen und somit die erdrückende Praxis der Koalitionsverträge und -ausschüsse infrage stellen.

Ort der Debatte

Der deutschen Demokratie tut diese Praxis nicht gut. Damit sie atmen kann und die Kluft zwischen Politik und Wählerschaft wieder geschlossen wird, muss der Gesetzgebungsprozess wieder offener werden und der Bundestag wieder ein Ort der wirklichen Debatte. (Helmut K. Anheier, 2.3.2018)