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Zu viel zu tun, als dass es nach einen Erwerbsarbeitstag noch getan werden kann? "Streik. 24 Stunden" wird hier in Bilbao vorgeschlagen.

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Es muss uns auch noch Zeit bleiben, uns politisch einzumischen, sagt Frigga Haug.

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Frigga Haugs politisches und theoretisches Projekt begleitet die Frauenbewegung seit Jahrzehnten und ist für viele Feministinnen eine wichtige Leitlinie für das eigene politische Engagement. Haug hat ihre wissenschaftliche Arbeit als Soziologin und Sozialpsychologin immer mit ihren politischen Aktivitäten verknüpft. Mit ihrem Konzept der "Vier-in-einem-Perspektive" schlägt sie in Hinblick auf gesellschaftlich wichtige Arbeit wie politische und Sorgearbeit eine radikale Verkürzung der Lohnarbeitszeit vor, eine Forderung, die sich auch im österreichischen Frauenvolksbegehren findet.

STANDARD: Wie utopisch darf Feminismus sein?

Haug: Feminismus muss zugleich eine Vision von einer Gesellschaft haben, wie sie sein sollte, also ein wenig utopisch sein und auf jeden Fall über das jetzt Bestehende hinausgehen. Er muss aber auch ganz realistisch sein und in allen Schritten Realpolitik betreiben. Rosa Luxemburg nennt das Revolutionäre Realpolitik, in der jeder Schritt am Fernziel ausgerichtet ist, an einer Vision, wie die alternative Gesellschaft aussehen könnte.

STANDARD: Ich frage deshalb, weil viele österreichische Politikerinnen die Forderungen des österreichischen Frauenvolksbegehrens als utopisch bezeichnet haben, etwa nach einer Arbeitszeitverkürzung auf 30 Wochenstunden. Was würden Sie ihnen antworten?

Haug: Es ist das Realistischste, das wir angesichts der ungeheuren Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit und des somit stets abnehmenden Bedarfs an Lohnarbeit fordern können. Unsere westlichen kapitalistischen Länder sind alle reich, dem wirtschaftlichen Wachstum steht nicht ein Wachstum an Arbeitskräftebedarf gegenüber. Eine radikale Arbeitszeitverkürzung ist die einzige Möglichkeit, keinen Berg an Arbeitslosen zu produzieren. Zudem haben wir viel zu viel Arbeit, für die wir mehr Zeit brauchen, für sämtliche fürsorgenden Arbeiten, in der Kindererziehung, in der Versorgung von Kranken und Alten. Diese Arbeiten werden gewöhnlich Reproduktionsarbeit genannt und werden ebenso gewöhnlich von Frauen umsonst in der Familie verrichtet. Diese Tätigkeiten muss man in einen Arbeitstag einrechnen, auch die eigene Entwicklung, für die es Zeit braucht. Nicht nur, um lebenslang zu lernen, sondern auch um den vielfältigen Möglichkeiten künstlerischer Art, die Menschen haben, nachgehen zu können. Und dann brauchen wir natürlich die Einmischung in die Gestaltung der Gesellschaft, also die Politik; wenn alle diese Tätigkeiten in einen Arbeitstag gehen müssen, sollte die Arbeitszeitverkürzung auf maximal 28 Stunden in der Woche gefordert werden. Jede andere Forderung schreibt die Marginalisierung der Frauen und die Überlassung der Fürsorgearbeit umsonst an sie fort und hindert sie an der Einmischung in Politik.

STANDARD: Oft wird kritisiert, dass Feminismus stets als links definiert werde. Was ist mit liberalem Feminismus, der Selbstermächtigung vor allem über Erwerbstätigkeit definiert?

Haug: Einem Feminismus, der auf eine veränderte Gesellschaft abzielt, der transformativ denkt und sich einsetzt, genügt nicht, dass alle einen gleichen Teil bekommen. Oder, wie Ingrid Kurz-Scherf (deutsche Politikwissenschafterin, Anm.) das formuliert hat: Es genügt uns nicht die Hälfte vom verschimmelten Kuchen, wir wollen einen anderen Kuchen.

STANDARD: Für linke Feministinnen gilt das neoliberale Credo als Schmäh, wonach durch Leistung und Arbeit an sich selbst Benachteiligung auszumerzen sei. Sie selbst thematisieren auch die "Selbstveränderung" als wesentliche Kraft, um Dinge zu verändern. Wo liegt der Unterschied?

Haug: Selbstveränderung als Mittel, um nach oben zu gelangen, halte ich für eine Falle. Es wirft die Einzelnen auf sich selbst zurück, vermittelt ihnen ein Schuldgefühl, wenn sie keinen Erfolg haben. Meine Betonung der Selbstveränderung übersetzt eine These von Marx zu Feuerbach auf die Frauenfrage. Da heißt es bei Marx: Selbstveränderung und Veränderung der Umstände fallen in revolutionärer Praxis zusammen. Dies aber meint doch auch, dass, wenn man sich zusammen mit anderen in der Veränderung von Gesellschaft oder von den Bedingungen, in denen man lebt, engagiert, man sich selbst verändert. Dies sind nicht zwei Bewegungen, sondern eine.

STANDARD: Im Rahmen dieser Selbstveränderung ist auch Ihre Täter-Opfer-These zu verstehen, im Zuge derer Sie etwa sagten: "Frauen sind als Opfer Täterinnen." Das könnte im Zuge der aktuellen massenhaften Enthüllungen über sexuelle Übergriffe (#MeToo) viele schmerzen. Frauen beschreiben sehr ähnliche Situationen, die ihnen jegliche Wehrhaftigkeit genommen haben – etwa wegen ökonomischer Abhängigkeit.

Haug: Als die 1968er-Frauenbewegung begann, gab es große öffentliche Foren, bei denen immer eine nach der anderen der versammelten Frauen nach vorne trat und sich als Opfer ihrer Männer bezeichnete. Das war eine ständige Zunahme an Verzweiflung und dem Gedanken, dass alle Frauen in einer Falle stecken, in der sie Opfer von Männern sind. Später wurde für das Kapital behauptet, dass es der Frauenunterdrücker Nummer eins sei. Tatsächlich hat mich diese Erfahrung dazu gebracht, die Opfer-Täter-These zu entwickeln. Die Annahme, dass alle Frauen in einer Männergesellschaft stecken wie in einem Gefängnis oder wie in einem Käfig und sich selbst nicht bewegen können, sondern wie Knetmasse geformt werden, ließ mich die These formulieren: Wenn es keine militärische Zwangsgesellschaft ist, braucht die Gesellschaft die Zustimmung derer, die in ihr leben.

STANDARD: Was bedeutet das für den Feminismus?

Haug: Dass für die Frauenbefreiung untersucht werden muss, wie die Frauen beim Heranwachsen ihrer eigenen Subalternität oder Marginalisierung zugestimmt haben. Nur wenn man diese Produktion von Frauen untersucht, gewinnt man nicht nur ein Wissen um das Unterwerfungshandeln, es ist auch zugleich die einzige Möglichkeit, sich an eigener Veränderung und der der Gesellschaft zu beteiligen, sich einzumischen. Dies war der Grundgedanke der Entwicklung der Erinnerungsarbeit, eines Projekts, das sich außerordentlich erfolgreich in vielen Ländern der Welt ausgebreitet hat. Es untersucht, wie sich die einzelnen weiblichen Wesen in die Gesellschaft hineinbauen, sie also als Opfer Täterinnen sind.

STANDARD: In den letzten Jahren sind geschlechterpolitische Fragen wichtige Debattenthemen geworden und werden in den Medien laufend aufgegriffen. Es scheint, dass alles thematisiert wird – Frauenquoten, Gewalt, sexistische Stereotype, sexuelle Übergriffe. Worüber wird nicht geredet?

Haug: Ich habe einmal die These aufgestellt: Geschlechterverhältnisse sind Produktionsverhältnisse. Damit meinte ich, dass die Menschen in der Produktion ihres Lebens neues Leben in die Welt setzen wie auch ihr eigenes und das der anderen immer wieder herstellen. In diesem historischen Prozess sind alle Entwicklungen Chancen und Behinderung, ist alle Brutalität, sind Krise und Krieg ebenso enthalten wie der gemeinschaftliche Einsatz für ein friedliches Leben, in dem alle wachsen können. Wesentlich ist, die verschiedenen Dimensionen in ihrer Verschränkung zu begreifen und nicht einseitig nur sexuelle Übergriffe oder Frauenquoten oder Ähnliches zu verfolgen.

STANDARD: Wie kann man sich diese Verschränkungen vorstellen?

Haug: Zum Beispiel die Frage, über die wir zu Beginn gesprochen haben. Die Reduktion der Arbeitszeit ist nicht nur sehr realistisch und gehört unbedingt verfolgt, sondern damit muss gleichzeitig klar werden, wofür die anderen Zeiten gebraucht werden, die man auf diese Weise frei bekommt. Deswegen würde ich eine solche Forderung immer mit dem Wofür verbinden: Damit wir genügend Zeit haben, uns politisch einzumischen, damit wir an unserer eigenen Entwicklung und Entfaltung, uns am Lernen beteiligen können, damit alle Männer und Frauen die fürsorgende Arbeit nicht als minderwertig betrachten und auf andere Schultern legen wollen, sondern sie als Bereicherung in ihr eigenes Leben einplanen.

STANDARD: Sie haben einmal in einem Interview gesagt, als sie ein Kind bekamen, hatten sie auch das Gefühl, dass es Sie im Speziellen gar nicht braucht und dass Sie andere Tätigkeiten sehr vermisst haben. Das hört man selten von Müttern.

Haug: Ich habe das in einem Satz gesagt, in dem ich zugleich sagte, dass ich dieses Kind vom ersten Tag an so sehr geliebt habe, dass ich jederzeit mein Leben für es gegeben hätte. Aber indem ich mit einem so kleinen Baby in einem Dorf saß und abgeschnitten war von meinem studentischen Leben, von sinnvoller Tätigkeit, erfuhr ich, dass dieses kleine niedliche Bündel mich nicht brauchte. Es schlief fast den ganzen Tag und war sehr heiter, sodass es zwar meine Anwesenheit irgendwo brauchte, falls es etwas wollte, aber doch nicht mich als ganze Person – den ganzen Tag und für das ganze Leben. Es ist eine Herausforderung, wie wir die Reproduktion der Menschen so organisieren wollen, dass die Heranwachsenden sowohl die Liebe und Fürsorge ihrer Eltern bekommen als auch, dass die Eltern diese Fürsorge nicht als Lebensersatz nehmen, sondern möglichst viel davon in gesellschaftliche Hände gehört, wie jetzt schon die Schule. (Beate Hausbichler, 8.3.2018)