Inhalte des ballesterer Nr. 130 (April 2018) – Seit 8. März im Zeitschriftenhandel und digital im Austria-Kiosk

SCHWERPUNKT: Dynamo Dresden

DRESDNER SYMBIOSE
Ein Verein und seine Fans

BASIS AN DER SPITZE
Fanvertreter im Aufsichtsrat

FAHRT IN CAMOUFLAGE
Karlsruhe und die Folgen

Außerdem im neuen ballesterer:

KEIN PROBLEM MIT KLAREN WORTEN
Michael Gregoritsch im Interview

DIE AMOAHS
Ein Treffen mit Charles und Winfred

DER LETZTE PFIFF
Wann ein Spiel abgebrochen wird

FUTBOL FÜR FLORIDA
David Beckham in den USA

PROTESTWÄHLER
Chaostage in Italien

STEUERFLÜCHTLINGE
Spaniens Profis vor Gericht

DIE GROSSE CHANCE
Max Wöber im Interview

WILDE MAUS
Beim VfL Bochum geht’s rund

ZWISCHEN FRANKFURT & NEW YORK
Die Karriere von Wilhelm Huberts

GROUNDHOPPING
Matchberichte aus Argentinien, Deutschland, Iran und Italien

Cover: Ballesterer

Minge: "Wir haben so eine geile Zeit erlebt, damals war die Übersättigung des Fußballs bei Weitem noch nicht so groß. Man hat sich viel mehr auf das nächste Spiel gefreut: Samstag war Punktspiel, Mittwoch war Europacup. Das hat sich langsam aufgebaut, man kommt her, sieht unsere Giraffen – die Flutlichtmasten, die stehen heute nicht mehr – die Lichter gehen an. Wenn wir gewonnen haben, standen als Dankeschön für den Sieg zwei Flaschen Bier von meinen Nachbarn vor meiner Eingangstür. Sicherlich waren wir privilegiert, überhaupt keine Frage."

Foto: Steffen Kuttner

"Ich bin Fan, und der Zufall wollte es, dass ich gleichzeitig auch Geschäftsführer Sport bin. Ganz einfach." Ralf Minge übt sich im ballesterer-Interview im Understatement. Denn seine Position verdankt er nicht dem Zufall, sondern einer beeindruckenden Karriere bei Dynamo Dresden. Zwischen 1980 und 1991 stand er in der DDR-Oberliga als Stürmer für Dynamo auf dem Platz, 1992 wechselte er im wiedervereinigten Deutschland als Co-Trainer für drei Jahre auf die Betreuerbank. In den 2000er Jahren folgten weitere Engagements als Funktionär, seit Februar 2014 bekleidet Minge nun das Amt des Sportgeschäftsführers. Anfang Februar wurde sein Vertrag um zwei Jahre verlängert. Beim Interview im Dresdner Stadion spielen seine Erfolge aber kaum eine Rolle. Auf mögliche Ehrungen angesprochen, übt sich Minge wieder in Bescheidenheit: "Für mich ist das nichts, worüber ich mein Glück definiere."

ballesterer: Welche Bedeutung hat die Sportgemeinschaft Dynamo für Dresden?

Ralf Minge: Der Verein ist eine Institution in Dresden, das ist gleichzusetzen mit der Semperoper, dem Kreuzchor. Er tangiert alle gesellschaftlichen Schichten – vom Müllfahrer bis zum Universitätsprofessor. Dynamo bewegt die ganze Stadt.

Der Verein wird im April 65. Wie wichtig ist die Traditionsarbeit für Dynamo?

Minge: Die Zeiten, wo es eine Meisterschaft zu feiern gab oder einen tollen Europacupabend, haben 85 Prozent des Publikums gar nicht selbst erlebt. Trotzdem ist diese Faszination da und wird von Generation zu Generation weitergetragen. Die Leute aus der aktiven Fanszene leben das extrem. Im Verein hat diese Traditionspflege aber erst in den letzten drei, vier Jahren richtig Schwung aufgenommen. Davor waren alle Fragen immer existenziell. Jetzt wollen wir dieses Thema in Zusammenarbeit mit der Fanszene wiederbeleben.

"Die Fanszene hat uns das Überleben mit ihrem Engagement mehrfach ermöglicht."
Foto: Steffen Kuttner

Der Klub positioniert sich als regionaler Mitgliederverein. Was ist die Strategie dahinter?

Minge: Sportlich gesehen liegen die besten Zeiten hinter uns, zudem ist nach der Wende viel verbrannt worden. Trittbrettfahrer haben den Verein ausgequetscht, aufgrund des Missmanagements waren wir mehrfach kurz davor, den Laden komplett zuzuschließen. Die Fanszene hat uns das Überleben mit ihrem Engagement mehrfach ermöglicht, deshalb wurden in der Satzung ein paar No-Gos installiert, um einer Entwicklung wie damals vorzubeugen. Heute verstehen wir uns als demokratischer Traditionsverein. Die Mitglieder haben einen aktiven, gestalterischen, solidarischen Part. Nach dem Abstieg 2014 mussten wir zum Beispiel noch Darlehen zurückzahlen, damals wurde bei der Mitgliederversammlung innerhalb von zehn Minuten beschlossen, dass die Mitglieder ihre Jahresbeiträge noch einmal bezahlen. Der Verein hat so innerhalb von zwei Minuten 1,2 Millionen Euro verdient. In einer weiteren Sonderumlage haben die Mitglieder im Folgejahr diesen Betrag noch einmal aufgebracht. Das ist wohl einmalig.

Der Verein hat jetzt über 20.000 Mitglieder, ist erstmals schuldenfrei.

Minge: Mit dem Abstieg vor vier Jahren ist die Konsolidierung losgegangen. Wir hatten noch fünf Spieler, kein Trainerteam, nichts mehr. Wir hatten über acht Millionen Schulden und ein Minibudget für die dritte Liga. Damals haben wir versucht, alle ins Boot zu holen. Es sind für uns als damaliger Drittligist ein paar glückliche Umstände wie Pokalsiege gegen Schalke und Bochum dazugekommen. Aber hier ist in der Zeit auch eine extreme Aufbaukultur gelebt worden: Jeder Mitarbeiter hat verzichtet, keiner auf die Uhr geschaut. Diese Demut war ansteckend und hat uns zusammengeschweißt.

Erlebt der Verein gerade die beste Zeit seit der Wende?

Minge: Die Voraussetzungen waren zumindest seither nie besser. Wir sind zukunftsfähig und haben uns ein neues Selbstbewusstsein erarbeitet. Die Schuldenfreiheit ist ein wesentlicher Faktor, ein echter Meilenstein. Ab Sommer wird mit Unterstützung vom Land Sachsen und der Stadt Dresden ein neues Trainingsgelände gebaut, das wäre vor fünf, sechs Jahren noch undenkbar gewesen.

Gut arbeitende, kleinere Vereine verlieren schnell ihre Spieler. Im Sommer sind einige Leistungsträger gegangen. Ist Dynamo ein Ausbildungsverein?

Minge: Wir definieren uns so, das ist Bestandteil unseres Leitbilds und hat Tradition. Als wir in meiner aktiven Zeit im Europacup gespielt haben, war das ja auch eine Bezirksauswahl. Alle Spieler wurden aus dem Umkreis von 60, 70 Kilometern rekrutiert und hier ausgebildet. Wir wollen und werden jedes Jahr zwei, drei Jugendspielern aus unserer Nachwuchsakademie eine Chance in der ersten Mannschaft geben. Gleichzeitig sind wir uns im Klaren darüber, dass sie uns, wenn sie das nächste Level erreichen wollen, wahrscheinlich irgendwann verlassen werden. Aber davon wollen wir dann auch profitieren.

Die Spieler aus der Region sind Identifikationsfiguren, bleiben aber nicht, wenn sie gut genug sind. Ist das ein Spannungsverhältnis mit den Fans?

Minge: Das ist der Lauf der Dinge. Diese Entwicklung im Profifußball werden wir nicht verhindern können. Die Zeiten sind vorbei, dass einer zehn, fünfzehn Jahre im Verein spielt. Dennoch schauen wir, dass wir Spieler finden, die sich mit dem Verein und der Stadt identifizieren. Unser Publikum ist da äußerst sensibel.

Wie wählen Sie neue Spieler aus?

Minge: Es gibt ganz klare Abläufe. Zuerst kommt die sportliche Komponente, dann die persönliche, dann treffen wir die Spieler hier zu Gesprächen mit dem Trainer. Dabei kriegt man schon heraus, ob jemand nur ein gutes Vertragsangebot will oder sich mit dem Verein auseinandergesetzt hat. Das ist kein unwichtiger Bestandteil.

Noch einmal zum Nachwuchs: Um regionale Talente wirbt auch ein Verein mit einem ganz anderen Selbstverständnis: RB Leipzig. Ist das eine starke Konkurrenz?

Minge: Bei der Infrastruktur haben wir nachgezogen, werden ihr Level aber nicht erreichen. Wirtschaftlich ohnehin nicht. Bei diesen beiden Komponenten ziehen wir den Kürzeren. Trotzdem haben wir im Sommer erstmals kein Toptalent an ein anderes Nachwuchsleistungszentrum verloren. Wir haben unser eigenes Konzept: duale Ausbildung, individuelle Förderung, kurze Wege bis zur ersten Mannschaft. Wir haben zwei Jahre hintereinander zwei 16-Jährige mit ins Trainingslager unserer Mannschaft genommen. Ich glaube schon, dass wir mit dieser Perspektive und guten Argumenten im Wettbewerb bestehen können – auch wenn der Kontrast zwischen beiden Klubs wahrscheinlich nicht größer sein könnte.

Kann es für Dynamo Dresden noch einmal in die erste Liga gehen?

Minge: Wir haben für die nächsten zwei, drei Jahre die Phase der Stabilisierung in der zweiten Bundesliga ausgerufen. Natürlich mit dem Ziel, die Voraussetzungen zu schaffen, um über kurz oder lang im Kampf um den Aufstieg konkurrenzfähig zu sein.

Ein wichtiger Teil der Vereinsgeschichte sind die Europacupauftritte zu DDR-Zeiten. Ist die Rückkehr auch ein Ziel?

Minge: Genau. Das waren unfassbare Momente – und ja, das ist unser Traum! Ich würde mich freuen, wenn ich mit dem Rollator hier reinfahren kann, um noch einmal ein Europacupspiel von Dynamo zu erleben.

Sie kennen den Europacup ja aus Ihrer aktiven Zeit. Sie waren ab 1980 elf Jahre im Klub und sind einer der erfolgreichsten Torschützen. Wie ist Ihre persönliche Beziehung zu Dynamo?

Minge: Zuerst einmal: Ich möchte nicht tauschen. Meine aktive Zeit jetzt in die Gegenwart transportieren? Um Gottes Willen. Wir haben so eine geile Zeit erlebt, damals war die Übersättigung des Fußballs bei Weitem noch nicht so groß. Man hat sich viel mehr auf das nächste Spiel gefreut: Samstag war Punktspiel, Mittwoch war Europacup. Das hat sich langsam aufgebaut, man kommt her, sieht unsere Giraffen – die Flutlichtmasten, die stehen heute nicht mehr – die Lichter gehen an. Wenn wir gewonnen haben, standen als Dankeschön für den Sieg zwei Flaschen Bier von meinen Nachbarn vor meiner Eingangstür. Sicherlich waren wir privilegiert, überhaupt keine Frage. Aber mit heute ist das nicht im Ansatz vergleichbar. Wir haben unter der arbeitenden Bevölkerung in einem Neubaublock gelebt, etwas mehr Geld und das Auto ein bisschen früher bekommen als der Normalsterbliche. Wir haben mit denselben Mitspielern zehn Jahre zusammengespielt, dadurch sind viele Freundschaften entstanden und eine ganz andere Bindung. Ich möchte keinen Tag missen.

Auch nicht den der 0:5-Niederlage gegen Rapid 1985 in Wien?

Minge: Das gehört doch dazu. Ein Jahr später habe ich die 3:7-Niederlage in Uerdingen miterlebt – eine Jahrhundertniederlage. Vor zwei Jahren war das 30-jährige Jubiläum des Spiels. Alle, die damals dabei waren, haben sich gescheut, darüber zu reden. Aber ich stehe dazu, ich halte ab und zu auch Vorträge darüber: "Ich war dabei, scheiße, auf der falschen Seite. Hätte ich mir anders gewünscht, aber ich habe etwas mitgenommen. Aus solchen bitteren Niederlagen lernst du fürs Leben manchmal viel mehr." In Wien hat der Hans Krankl den Peter Pacult umgeschubst, und dafür hat es Elfmeter für Rapid gegeben. Dann habe ich beim Stand von 0:1 noch einen gegen die Latte geköpft.

Werden wir noch einmal erleben, dass Mannschaften wie Dynamo Dresden und Rapid in einem Europacupviertelfinale stehen?

Minge: Für diese Vorstellung braucht man schon viel Fantasie. Wirtschaftlich kann man das nicht aufholen, man sieht ja an den aktuellen Ergebnissen, wie brutal das wird: Liverpool gewinnt in Porto 5:0, Manchester City in Basel 4:0. Da dürfen wir nicht träumen. Wir könnten einen separaten Pokal ausrufen, wo wir uns treffen können – früher hat es ja auch einmal den Messecup gegeben.

Sie sind nach der aktiven Karriere im Fußball geblieben. Wie waren die Wendejahre als Co-Trainer eines Vereins in der Krise?

Minge: Ich hatte zuerst noch eine Assistentenstelle in der Geschäftsführung. Dort habe ich die Fehlentwicklungen schon registriert, aber ich habe auch nicht gewusst, wie es anders funktionieren kann. Wir sind ja unter ganz anderen gesellschaftlichen Voraussetzungen in der DDR groß geworden. Wir hatten zum Beispiel vom Thema Vermarktung überhaupt keine Ahnung. Nach drei Monaten habe ich gesagt: "Tut mir leid, aber ich glaube, wir sind auf dem falschen Weg" und bin in den sportlichen Bereich gegangen. Es war eigentlich ein Wunder, dass wir uns unter diesen Bedingungen vier Jahre in der Bundesliga halten konnten. Wir haben mit minimalen personellen Ressourcen wahnsinnig viel improvisiert. Das war wirklich Wildwest, diese Jahre, als die ganzen Trittbrettfahrer wie Rolf-Jürgen Otto und die Vermarktungsfirma Sorad aus Saarbrücken gekommen sind. Die haben uns gnadenlos über den Tisch gezogen.

Hat da im Verein schlicht die Expertise gefehlt?

Minge: Ja, wir haben letztlich einen Fehler gemacht: Wir haben im sportlichen Bereich Leute importiert, obwohl die Fußballfelder im Osten ja genauso groß und die Trainingswissenschaft hier sehr weit waren. Und in den Bereichen, die für uns Neuland waren, haben wir geglaubt, wir können es über Nacht alleine.

Etwas untypisch an Ihrer Biografie ist ein Jahr in Aue, heute der große Rivale. Gibt es Leute, die sich daran stoßen?

Minge: Das wäre mir egal. Ich habe schon, als ich recht neu bei Aue war, in einem Fernsehinterview gesagt: "Ich werde immer ein Dynamo bleiben." Zu Ostzeiten war Aue eher Kindergeburtstag. Wir sind hingefahren, haben 3:0 gewonnen und sind wieder nach Hause gefahren. Die Rivalität hat sich erst in den letzten 20 Jahren entwickelt. Wir hoffen, dass es das Derby noch lange gibt. Auch wenn ich an das lila Schwein denke, das durchs Stadion fliegt. Da haben die aus Aue gesagt: "Mensch, das wollen wir für unsere Sponsorenweihnachtsfeier kaufen." So eine Rivalität darf man nicht auf das Gegeneinander reduzieren, Derbys sind tolle Erlebnisse. So wie im Dezember, als wir 4:0 gewonnen haben. (Interview: Jakob Rosenberg)