Alejandra R. packt ihre Sachen. Nie im Leben wollte sie Venezuela verlassen, sagt die 23-Jährige, schon gar nicht mit dem Bus nach Chile gehen. "Aber es blieb mir nichts anderes übrig."

Foto: Carlos Garcia Rawlins

Mit einem Rucksack auf dem Rücken, einem Fernseher in den Armen, 50 Dollar in der Tasche und verzweifelter Hoffnung im Gesicht stand Gregory Ruiz vor ein paar Monaten in einer langen Schlange auf der Grenzbrücke nach Kolumbien. "In Venezuela gibt es keine Arbeit, nichts zu essen", sagte er einem Reporter.

Den Fernseher verkaufte er in der kolumbianischen Grenzstadt Cúcuta für ein paar Hundert Dollar. Sein Startkapital reichte nicht lange. Jetzt schläft der 24-Jährige im Stadtpark, isst in Suppenküchen und sucht verzweifelt einen Job. Schreiner hat er gelernt, aber er würde alles annehmen. Doch Jobs sind rar in der Grenzstadt, in der täglich Hunderte neuer Flüchtlinge aufschlagen. Trotzdem wolle er nicht zurück, sagt Ruiz. "Hier habe ich wenigstens zu essen."

Venezuela, mit seinem Erdöl einst das reichste und politisch stabilste Land Südamerikas, war in den 70er- und 80er-Jahren Anziehungspunkt für Migranten aus der ganzen Region. Jetzt blutet es aus. Es flieht die Jugend, es flieht die Mittelschicht – und mittlerweile flüchten auch Arme wie Ruiz, der aus dem Elendsviertel Petare der Hauptstadt Caracas stammt.

Drei Millionen leben im Ausland

Knapp drei der 30 Millionen Venezolaner leben nach Umfragen des Observatoriums "Stimme der Diaspora" im Ausland. Einer konservativeren Schätzung der Uno zufolge, die auf Melderegistern der Empfängerländer basiert, sind es nur 1,5 Millionen. Dennoch ist es laut UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR der derzeit der größte Massenexodus zusammen mit Syrien und Myanmar. Ausgelöst wurde er durch den Absturz Venezuelas, dessen Wirtschaft seit dem Amtsantritt von Präsident Nicolás Maduro 2013 um ein Drittel schrumpfte. Gleichzeitig schnellte die Kriminalität in die Höhe, die politische Repression gegen Oppositionelle eskalierte. Hyperinflation frisst die Löhne auf; Hunger, Krankheiten breiten sich aus.

Wer es sich leisten kann, kauft sich ein Flugticket. Panama, Peru, Mexiko, Ecuador, Chile, Spanien, die USA, Kanada und Israel gehören zu den beliebtesten Zielen der Mittelschicht. Die Ärmeren fahren mit dem Bus an die Landesgrenzen und gehen zu Fuß nach Kolumbien oder Brasilien. Oder sie heuern Fischerboote an und versuchen, die vorgelagerten Inseln Aruba, Bonaire oder Curaçao zu erreichen. "Die Fluchtwelle begann 2015 und hat sich exponential beschleunigt", warnt der Direktor des Observatoriums, Tomas Paez. "Wegen der galoppierenden Inflation sind 82 Prozent aller Venezolaner in die Armut gestürzt. Ich als Universitätsprofessor verdiene umgerechnet nur sieben Dollar im Monat."

57 Prozent wollen Land verlassen

Laut Umfrage des Instituts Datincorp wollen 57 Prozent aller Venezolaner das Land verlassen. Rund 600.000 leben in Kolumbien. Damit bekommt das Nachbarland den Großteil des Flüchtlingsstroms ab. In den USA sind 300.000, in Spanien 210.000, in Chile 120.000 Venezolaner registriert. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein; viele Venezolaner reisen als Touristen ein und bleiben einfach.

"Lateinamerika ist nicht vorbereitet auf so eine Krise", warnt Patricia Andrade von der US-Flüchtlingshilfegruppe Venezuela Awareness. Grenzstädte wie Macau und Cúcuta in Kolumbien sehen sich mit einer humanitären Krise konfrontiert, sie richteten Flüchtlingslager, mobile Krankenstationen und Suppenküchen ein.

Erhöhte Militärpräsenz

Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos erhöhte die Militärpräsenz in der Grenzregion. Panama, wo 80.000 Venezolaner registriert sind, führte Visumspflicht ein. Aruba und Curaçao schlossen die Landesgrenzen und verlangen von jedem venezolanischen Neuankömmling, dass er mindestens 1000 US-Dollar in bar vorweist. Bettelei, Prostitution und Straßenraub haben zugenommen.

Venezuelas Regierung, die die Katastrophe verursacht hat, stellt sich taub. "Das sind lauter Frustrierte der gescheiterten Proteste", erklärte Gefängnisministerin Iris Varela. "Hoffentlich bleiben sie, wo der Pfeffer wächst." (Sandra Weiss aus Puebla, 8.3.2018)