Grafik: Der Standard

Klein Moritz in der Schule. Erste Stunde: Staatsbürgerkunde. Wir müssen dankbar sein unserem geliebten Genossen Lenin. Zweite Stunde: Geschichte. Sturm auf den Winterpalast unter der Führung des Genossen Lenin. Dritte Stunde: Geografie. Unser großer Bruder, die Sowjetunion, gegründet durch den Genossen Lenin. Vierte Stunde: Biologie. "Kinder, was hat einen buschigen rostbraunen Schwanz, springt von Baum zu Baum und knackt Nüsse?" Klein Moritz: "Normalerweise hätt' ich Eichhörnchen gesagt, aber wie ich den Laden kenne, wird es bestimmt Lenin sein."

Vierzig Jahre später, wir befinden uns in Berlin, der Hauptstadt der richtigen Einstellung, urbi et orbi. Ich schalte das Radio ein: Eine sanfte Frauenstimme erzählt mir über die friedfertige Abart des Islam, die Sufi in der Türkei. Es gibt deren mehrere Hunderttausend, das Oberhaupt ist eine Frau ohne Kopftuch, die manchmal auch Lippenstift aufträgt. Und zweimal geschieden ist sie obendrein. Ich schalte den Fernseher an, ein aufgeweckter Jungsopran berichtet im Tonfall einer Angela Merkel'schen Gute-Nacht-Geschichte ... Ich setze mich ins Auto, pardon, aufs Fahrrad, und ducke mich vor den Plakaten mit der orthografisch nicht ganz korrekten Aufschrift "Fahr nicht blind. Augen auf die Straße!", darauf Fotos hübscher junger Menschen, welche wie Blindekuh mit verbundenen Augen das Lenkrad halten.

Ein Menschenleben reicht kaum, um die ganzen Vorgaben und Skrupel zu verinnerlichen. Jetzt nicht gleich so kleinmütig, wenn wir uns gewaltig anstrengen, könnten wir gute Menschen werden – solche wie die, welche uns aufklären.

Veggie-Day auf Eis

Die deutschen Grünen haben mit knapper Mehrheit den gesetzlich verordneten Veggie-Day vorerst auf Eis gelegt. Dabei wäre es so einfach gewesen: Wir hätten nur den katholischen Freitag abzustauben gebraucht. Ich schlage die Zeitung auf: In Manchester ist das mittlerweile berühmte Bild mit halbnackten Nymphen im Wasser wieder aufgehängt, der Maler hieß bezeichnenderweise Waterhouse und hat es 1896 gemalt. Das Abhängen war freilich keine Zensur, erfahren wir zur Beruhigung, sondern Kunst. Ich sollte mein Gewissen prüfen, ob ich nicht mit begehrlichem Blick auf die nackten Busen gestarrt hätte.

Hätte ich wohl. Für ein Selbermalen des Bildes hat es bei der Urheberin der Aktion nicht gereicht, aber vielleicht könnte sie, so wie der berühmte Hosenmaler de Volterra im Auftrag von Pius IV. die anstößigen Blößen an Michelangelos Jüngstem Gericht in der Sixtinischen Kapelle bedeckte, den Nymphen eine Latzhose im Stile der Achtziger drauftünchen. Im hessischen Limburg ist auf Protest einer Veganerin hin das Lied "Fuchs, du hast die Gans gestohlen" aus dem Glockenspiel des Rathauses genommen worden. Die Tierschutzorganisation Peta zeigte sich hocherfreut, wies allerdings darauf hin, dass in den Kinderliederbüchern noch einige Arbeit auf sie wartet.

Die deutschen Bühnen sind übereingekommen, dass weiße Schauspieler nicht Farbige spielen sollen. Das hat nichts mit Apartheid zu tun, im Gegenteil. Hamlet soll künftig nur von Dänen verkörpert werden.

Nehmen wir einmal Zuflucht zum Tierreich, sofern dieser rückwärtsgewandte Begriff hier statthaft sei: Ein Löwe hat gut gebrüllt, seine Tapferkeit sollen ja alle hören, womit er in Potemkin'scher Manier kaschiert, dass er in der restlichen Zeit faul herumliegt. Der Fuchs ist listig, der Bär gemütlich, solange er uns nicht auf einem Waldpfad begegnet, das Krokodil hingegen heimtückisch, so wie es totenähnlich im Tümpel auf sein Opfer lauert, man könnte es aber auch geduldig nennen. Nicht nur ein Krokodil jedoch, auch die Straßenlaterne kann ausnehmend heimtückisch daherkommen, wenn sie sich einem Angetrunkenen in den Weg stellt, geschweige denn ein Fahrradständer. Dieser Angetrunkene ist unser Moralist, dem allerhand Gegenstände eben gut, unzureichend bis verrucht entgegentreten. Moralist ist jemand, dessen Promillegehalt an Moral in einer Welt nüchterner Fakten – also nicht in unserer – leicht zum Führerscheinentzug führen dürfte.

Ordnung ins Leben bringen

Teilen wir einige Begriffe des derzeit in Westeuropa endemisch vorkommenden Moralistentypus in Gut und Schlecht ein, um ein wenig Ordnung ins Leben zu bringen. Gut: jung, farbig, weiblich, vegan, indigen (wenn nicht mit dem Skalpieren unterlegener Feinde beschäftigt), homo- oder besser intersexuell, Bauch (Körperregion, nicht Umfang), Natur (nicht als Vulkanausbruch oder Borkenkäfer) und – moralisch!

Schlecht: alt, männlich, weiß (Hautfarbe), Gentechnik (die DNA selbst ist es nicht unbedingt), Apparatemedizin (solange man nicht selber vom Rad gestürzt ist), verkopft (zielt auf das Gehirn ab), Chemie (solange man kein Pingpong spielt oder im Kino sitzt).

Müll trennen, Unisex-Toilette benutzen, Gender-Sternchen reinschreiben, xenophil sein, radfahren, fairen Kaffee trinken, dann hat man so viele Pluspunkte angesammelt, dass man sich zwischendurch den Absprung zu einem kleinen Raubmord leisten könnte. Die Unpersönlichkeit des moralinen Konflikts, bei dem es wie bei Dr. No zumindest um den Untergang des Planeten oder die gerechte Welt geht, begegnet eigentümlich dessen privatisierender narzisstisch-hypochondrischer Ausgestaltung: Der wahre heutige Moralist ist vegan und fühlt sich in seiner Mission bestätigt, wenn er sich den Hintern mit Recycling-Klopapier abwischt. Die Auswahl dessen, was Sünde ist und was nicht, erfolgt dabei auffallend selektiv.

Dass er auf Ikea-Möbeln wohnt, die womöglich durch Zwangsarbeiter in Stasi-Gefängnissen oder mittels Kinderarbeit angefertigt wurden, interessiert eher weniger. Abgesehen davon, dass ein Einkauf bei Ikea durch die verschlungenen Gänge ohne Abkürzungen die Kriterien einer Freiheitsberaubung erfüllt.

Nun hat jede Gesellschaft ihre Ressourcen an Moralnormen, aus denen sich Einzelne oder Gruppen bedienen. In einem theokratisch geprägten Staat geschieht die eigene Legitimierung durchs Tragen von Kopftuch, Verzicht auf vorehelichen Sex oder das regelmäßige Ablegen einer Beichte. In einer pluralistischen (Post-)Demokratie hingegen kämpfen verschiedene konkurrierende Gruppen um die Deutungshoheit im Diskurs, der keiner ist, denn es geht primär um Haltungen, am Ende stehen sich die Seiten wie am Anfang gegenüber, und so etwas wie einen Sieg erzielen die Beteiligten durch Lautstärke und institutionelle Hebel. Als probates Mittel zur Anklage des Anderen dient dabei die Empörung. Wer andere erzieht, ist erwachsen und hat schon halb gewonnen. Je frischer und weniger durch gründelndes Grübeln erlangt die Ansichten, desto rigoroser deren Weitergabe. Ich gehe auf die Straße und muss die Welt nicht verstehen, ich brauche sie nur zu benoten. Die Regeln polizeilich vorgegeben, wie Verkehrszeichen. Die Laternenmaste links die Guten, die rechts die Schlechten. Der Begriff herrschende Moral besagt schon sehr viel. Moralismus ist an die Anderen adressiert. Selbst indem ich mich geißle, geißle ich die Anderen. Und ich geißle sie nicht zuletzt, weil sie nicht so tolerant und weltoffen sind wie ich.

Genderismus

Signifikant ist, wie die moralischen Einstellungen meistens im Paket übernommen werden, wobei deren logische Kongruenz nicht im Vordergrund steht. Wer beispielsweise den Genderismus gut findet, ist in der Regel auch für das Bewillkommnen der Migranten, welche wiederum zumeist Kulturen repräsentieren die zum Genderismus im diametralen Widerspruch stehen.

Für die Welt der Kunst und Kultur besteht der Vorteil der Materie auch darin, dass sie wenig Erkenntnisgewinn bietet, da von Sokrates über Spinoza bis Kant das Wesentliche gesagt worden ist. So lassen sich die Formeln ohne großartige Anstrengung für die Beteiligten von den Kanzeln des politischen Theaters und der Museen perpetuieren, das gesättigte bürgerliche Publikum ist inzwischen recht gut konditioniert, anstelle von Repräsentationskunst bekommt es einen Gutteil von Repräsentationsgesinnung.

Vorletztes Jahr hatten wir das Flüchtlingsstück, letztes das Terrorstück, heuer das Sexismusstück, nächstes Jahr wird auch schon etwas kommen wie etwa eine Überschwemmung, die sich zu kommentieren verlohnt. Manche Großausstellung wiederum erinnert an einen Volkshochschulkurs in Sachen Kolonialismus, bei dem das Politische als Feigenblatt für die streckenweise künstlerische Dürftigkeit fungiert.

Reiner Kunze schrieb einmal: "Auch die Erde, sagen sie, muss dafür oder dagegen sein, sie darf nicht einfach sein." Ewas bissiger formuliert Nietzsche: "Das moralische Urtheilen und Verurtheilen ist die Lieblingsrache der Geistig-Beschränkten an denen, die es weniger sind, auch eine Art Schadenersatz dafür, dass sie von der Natur schlecht bedacht wurden, endlich eine Gelegenheit, Geist zu bekommen und fein zu werden: – Bosheit vergeistigt." (Petr Manteuffel, 7.3.2018)