San Francisco/Wien – Es ist ein umstrittenes wie relevantes Thema in den Neurowissenschaften: Bis zu welchem Alter und in welchen Regionen bildet das menschliche Gehirn neue Nervenzellen? Ließe sich dieser Prozess irgendwie unterstützen, um Erkrankungen und Alterserscheinungen entgegenzuwirken? Während man lange Zeit annahm, die sogenannte Neurogenese im Gehirn sei schon im Säuglingsalter vollständig abgeschlossen, entdeckten Forscher in den 1960er-Jahren erstmals gegenteilige Hinweise. In den folgenden Jahrzehnten wurde zunächst bei Nagetieren, später auch bei anderen Säugetieren inklusive Primaten festgestellt, dass es zumindest in manchen Hirnregionen auch im Erwachsenenalter zur Neurogenese kommt.

Der Gyrus dentatus bei der Geburt: Neu gebildete Neuronen erscheinen grün und gelb, ältere Nervenzellen rot.
Foto: Arturo Alvarez-Buylla

Die wohl am besten untersuchte Hirnregion, bei der man von Nervenzellenwachstum im Erwachsenenalter ausgeht, ist der sogenannte Gyrus dentatus im Hippocampus, einem Areal, das bei der Gedächtniskonsolidierung eine zentrale Rolle spielt. Ende der 1990er-Jahre berichteten Forscher dann, dass Neurogenese auch im erwachsenen menschlichen Hippocampus stattfindet. Eine große Untersuchung im Jahr 2013 kam schließlich zur Einschätzung, dass dort täglich etwa 1.400 neue Neuronen nachgebildet werden.

Überraschende Ergebnisse

Nun aber zieht eine neue Studie diese Annahme massiv in Zweifel: Forscher um Arturo Alvarez-Buylla von der University of California in San Francisco berichten im Fachblatt "Nature", dass in Gewebeproben aus den Gehirnen von 59 Probanden keinerlei Hinweise auf Neurogenese im erwachsenen Gyrus dentatus gefunden werden konnten. Die älteste Person, bei der sie die Bildung neuer Nervenzellen im Hippocampus nachwiesen, war demnach 13 Jahre alt.

"Unsere Untersuchungen zeigen, dass Neurogenese im erwachsenen Hippocampus beim Menschen wenn, dann ein extrem seltenes Phänomen ist", sagte Alvarez-Buylla und betonte, vom Studienergebnis selbst völlig überrascht gewesen zu sein: "Wir haben erwartet, viele junge Nervenzellen zu finden – doch wir konnten keine entdecken." Das werfe neue Fragen über die Funktion und das Regenerationspotenzial der Neurogenese im Gehirn auf, so der Forscher.

Vorhersehbare Debatte

Die Gewebeproben, die Alvarez-Buylla und Kollegen aus China und Spanien untersuchten, wurden entweder postmortal oder im Zuge von Gehirnoperationen entnommen und stammten aus unterschiedlichsten Altersstufen: von Ungeborenen bis zu Personen im Alter von 77 Jahren. Dabei fanden sich deutliche Hinweise auf Neurogenese in pränatalen und neonatalen Proben, schon im ersten Lebensjahr nahm die Nervenzellneubildung jedoch stark ab. Im Alter von sieben und 13 Jahren fanden sich nur noch vereinzelt junge Neuronen, im Gewebe älterer Probanden gar keine.

Aufnahmen von menschlichem Hippocampusgewebe bei der Geburt (links), im Alter von 13 Jahren (Mitte) und im Alter von 35 Jahren (rechts). Junge Neuronen erscheinen grün.
Foto: Arturo Alvarez-Buylla

In einem ebenfalls in "Nature" erschienenen Kommentar zeigt sich der Hirnforscher Jason Snyder von der University of British Columbia überzeugt, dass die Studie eine wissenschaftliche Kontroverse auslösen werde. Das Ergebnis sei aber nicht völlig überraschend: In letzter Zeit habe es vermehrt Hinweise darauf gegeben, dass sich die Neurogenese bei ausgewachsenen Nagetieren stark verlangsame.

Kritische Stimmen

Unabhängige Experten mahnten indes zur Vorsicht. Jonas Frisén vom Karolinska Institut in Stockholm, dessen Team 2013 die Neurogenese im Hippocampus Erwachsener quantifiziert hatte, ist von der aktuellen Studie nicht überzeugt. Die täglich neugebildeten 1.400 Neuronen kämen unter den zig Millionen existierenden Hippocampuszellen einer Nadel im Heuhaufen gleich, sagte er zum "Scientific American". "Vielleicht haben sie einfach nicht genau genug nachgesehen." Zweifel äußerte etwa auch Fred Gage vom Salk Institute for Biological Studies im kalifornischen La Jolla. "Neurogenese ist ein Prozess, kein Ereignis. In der Studie wurde aber nur totes Gewebe in einem bestimmten Moment untersucht." (David Rennert, 8.3.2018)