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Proteste im Jänner 2018 in Bukarest: Der Kampf um bürgerliche Freiheit und wirtschaftliche Gerechtigkeit als Konstante – auch in der rumänischen Literatur.

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Am 8. August 1870 entstand in der rumänischen Stadt Ploiesti eine Republik, der keine allzu lange Geschichte beschieden war. Sie dauerte von zwei Uhr nachts bis vier Uhr nachmittags, und sie erreichte einen Höhepunkt, als um sieben "zum Klang des heroischen Marsches von 48 die Fässer geöffnet" wurden.

Daraus ergab sich eine "spektakuläre Sause", die allerdings bald von einer Jagdkompanie aus der Hauptstadt beendet wurde. Die Kräfte der Reaktion fanden schließlich nur noch einen verkaterten neuen "Polizeier" vor, der sich auf die Frage, wer ihn hier eingesetzt hätte, mit einem großen Wort legitimierte: "Das Wolk!"

Mit der Berufung auf ein Volk, die im Gelalle der demokratischen Ekstase untergeht, endete nicht nur "das heldenhafteste Kapitel des rumänischen Liberalismus", sondern auch die heitere Kurzgeschichte Das Wolk! von Ion Luca Caragiale, der 1852 in dem Dorf Haimanale unweit von Ploiesti geboren wurde. Die kurzlebige Republik kann man also gut auch als einen "Ritus der Passage" für den späteren Nationaldichter begreifen, auch wenn dessen Rückschau (Das Wolk! erschien 1896 in einer Zeitschrift mit dem passenden Titel Epoca) satirisch mit der Niederlage umgeht.

Freie Marktwirtschaft

Man kann das kleine Prosastück heute schwerlich lesen, ohne dabei an die Menschenmassen zu denken, die sich im Vorjahr und in diesem Winter alle möglichen exponierten Körperteile abfroren, um gegen die Enteignung ihrer Republik durch eine korrupte Elite zu demonstrieren. Was bei Caragiale noch ganz allgemein die "Reaktion" war, ist heute ein gut dokumentierter, widerstandsfähiger Komplex von Interessen, die eben nicht die des Volkes sind.

Rumänien hat 1990 den Kommunismus überwunden, seit 2007 gehört das Land zur EU. Wer will, kann heute auf gut ausgebauten Straßen bis an Schwarze Meer fahren und wird dabei überall die blauen Tafeln sehen, auf denen auf die Förderungen aus Brüssel hingewiesen wird.

Wenn aber heute in Österreich von Rumänien die Rede ist, dann geht es viel öfter um bettelnde Roma, um entsendete Arbeitskräfte oder um abfließende Kinderbeihilfe, während die Unsummen, die österreichische Wald- und Grundbesitzer, Investoren, Banken und Handelsketten aus dem Land abschöpfen, unter dem natürlichen Lauf der freien Marktwirtschaft verbucht werden. Davon ist in dem großartigen Band Humbug und Variationen (Guggolz-Verlag) von Ion Luca Caragiale natürlich auch keine Rede, schließlich stammen die kleinen Texte, die hier versammelt sind, überwiegend aus dem späten 19. Jahrhundert.

Gefüllte Spalten auch in undankbaren Zeiten

Sie lassen ein aufgeschlossenes Publikum aber entdecken, dass Rumänien ein Land mit einer reichen republikanischen Geschichte ist und dass der Kampf um bürgerliche Freiheiten und wirtschaftliche Gerechtigkeit eine Konstante ist. Caragiale wird in diesem von Eva Ruth Wemme übersetzten Band vor allem als Feuilletonist vorgestellt, als jemand, der auch in undankbaren Zeiten die "Spalte V" füllte. Er tat dies mit großartigem Witz und wird hier gleich viel lebendiger, als man es nach der Lektüre manches seiner Theaterstücke (auf denen auch zentrale rumänische Filme beruhen) gedacht hätte.

Unter den rund 40 Titeln, die aus Anlass des Buchmessenschwerpunktes erscheinen, wird man schwer einen gemeinsamen Nenner finden. Aber es fällt auf jeden Fall auf, dass ein gewisser Hang zum anarchischen Erzählen in der rumänischen Sprache ganz gute Voraussetzungen vorzufinden scheint (wobei man da wiederum eben den wackeren Übersetzern vertrauen muss).

Eva Ruth Wemme zum Beispiel hat auch noch das Handbuch der Zeiten (Verbrecher-Verlag) von Stefan Agopian ins Deutsche gebracht, einen fantastischen Roman aus dem Jahr 1984, also aus einer Zeit, in der wohl nur wenige ein Ende der Ceausescu-Jahre für realistisch gehalten hätte.

Primat der Sprache vor den Tatsachen

Agopian hingegen auf seine Weise wohl doch: Die Geschichte von dem Geografen Ioan und dem Armenier Zadic spielt zwar im frühen 19. Jahrhundert (als Rumänien geopolitisch zwischen Moskau und Stambul eingezwängt war, also eher nicht nach Westen schaute), sie weist aber vor allem voraus in ein Reich der Freiheit, in dem mit viel Alkohol ein Primat der Sprache vor den Tatsachen befeuert wird.

"Universalität, Simplizität, Spontanität" werden als das dreifache Ziel in einem Wettbewerb der erzählerischen Auseinandersetzung mit Kakodämonen und anderen merkwürdigen Kreaturen ausgegeben. Agopian wird sicher bewusst gewesen sein, dass diese drei Begriffe klassische Topoi der revolutionären Kommunikation sind. Allerdings bricht sich die "Spontanität" eben immer an Beharrlichkeiten, von denen in Rumänien häufig unklar ist, ob sie sich eher der feudalen, der faschistischen oder der kommunistischen Prägung zuschreiben lassen. In Catalin Mihuleacs Roman Oxenberg & Bernstein (Zsolnay) wird das Land, das sich gerade die Freiheit erkämpft hat, zu einer Art Flohmarkt, auf dem die Menschen zum Westen aufschließen, indem sie dessen alte Kleider auftragen. Diese Rahmenhandlung, in der eine patente junge Rumänin namens Suzy von Washington aus neu auf die Geschichte von Rumänien blickt, weil sie in eine jüdische Familie mit Wurzeln in Iasi hineingerät, führt dann aber bald zu Rückblenden auf eine "Zeit der Prüfungen". Das ist zuerst einmal ganz wörtlich zu verstehen, nämlich als Hinweis auf akademische Anforderungen zum Beispiel an Ärzte, wird dann aber auf schreckliche Weise real. Die zynische Forderung von Antisemiten in den frühen 20er-Jahren, jüdische Medizinstudenten sollten eigene (jüdische) Leichen zum Sezieren mitbringen, wird zu einem Vorspiel für ein Progrom, das im Mittelpunkt des Romans steht.

Mihuleacs Witz

Mihuleac zeigt dabei mit seiner verschachtelten Erzählkonstruktion und mit einem ständig überschießenden Witz, dass auch die große Geschichte mit ihren ernsten Momenten auf eine Art nur satirisch-defensiv erlitten und bewältigt werden kann. Gegen "Hitler multipliziert mit Stalin erhoben zur Mao-Potenz", womit das Regentraufenprinzip des 20. Jahrhunderts bei Mihuleac auf eine Formel gebracht wird, können nur die Launen des Zufalls etwas aushelfen. Dieser großartige Überlebensroman endet übrigens nicht zuletzt in Wien, wo "kräftig getrunken" wird. "Nirgendwo habe ich so viele Frauen jedweden Alters gesehen, die beim Gehen den Eindruck erweckten, sie strickten Wollsocken mit den Beinen." Mit diesem Satz solle ungefähr deutlich werden, was Mihuleac als Erzähler so drauf hat.

Vermutlich braucht es einen kühlen Blick von außen, um ein Land wie Rumänien einer Vivisektion zu unterziehen (um das Bild von Mihuleac von den rassistisch zu scheidenden Sezierleichen mit Musils Ansprüchen an einen Roman zu kreuzen). In dieser Saison gibt es jedenfalls ein Beispiel, wie so eine Außenperspektive wirklich brillant auf einen größeren Horizont verweist. Oliver Bottinis Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens (Dumont) ist ein Krimi, und doch viel mehr. In einer Gegend, in der intensiv Landwirtschaft betrieben wird, kommt eine junge Deutsche ums Leben. Ihr Vater hat in Rumänien einen Neuanfang gesucht, er brachte Enttäuschungen aus der abgewickelten DDR mit und konkurriert nun mit dem Kapital aus den unterschiedlichsten Reichtümern dieser Welt um den fruchtbaren Boden.

Die entscheidende erzählerische Idee von Bottini besteht darin, dass er den Landraub (den korrupte lokale Funktionäre unterstützen, weil sie davon auch kräftig profitieren) nicht einfach als ein Symptom der neoliberalen Globalisierung, sondern dass er herausarbeitet, wie die Strukturen dafür ausgerechnet von der kollektivierten Landwirtschaft im Kommunismus geschaffen wurden. Diese bittere Ironie einer Geschichte (erhoben zur Potenz der heutigen extraktiven Supermächte) ist in Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens niemals aufgesetzt, sondern ergibt sich aus einem flüssig erzählten, spannenden Kriminalroman, der aber eben doch sehr viel mehr ist: ein europäisches Panorama, in das sowohl geografische wie historische Umstände eingearbeitet sind. Und zu dem man nach der Lektüre am liebsten einen heroischen Marsch von 48 spielen würde. Oder ein Fass aufmachen. (Bert Rebhandl, 10.3.2018)