Jahre ging die Angst um in der Versicherungsbranche. Schnelle Start-ups würden altmodische Traditionsfirmen hinwegspülen, prophezeiten die Digitalauguren – zu langsam, zu teuer, weit weg von den Kunden. Doch die etablierten Riesen sind resistenter als gedacht.

"Disruption" ist eine Lieblingsphrase der Unternehmensberater – und ein Angstbegriff für viele Manager in der Versicherungsbranche. Mit schwerfälliger Verwaltung, teurem Vertrieb, langsamen Entscheidungsprozessen und verstaubten Hierarchien erscheinen die etablierten Riesen als natürliche Opfer junger, digitaler Start-ups – im Branchenjargon Insurtechs genannt.

Keine Revolution

Doch inzwischen haben Allianz, Munich Re & Co Mut gefasst. Denn es zeigt sich, dass die große Mehrheit der Insurtechs gar keine Revolution plant: Sie wollen lediglich ihre Software an die Traditionsfirmen verkaufen. Und diese wiederum experimentieren selbst mit hohen Investitionssummen.

"Die Versicherungen werden nicht sterben. Die Insurtechs, die am Front End direkt am Kunden ansetzen, konnten noch nicht den großen Erfolg verbuchen", sagt Tom van den Brulle, Innovationschef beim weltgrößten Rückversicherer Munich Re. "Die Branche war vor zwei, drei Jahren deutlich nervöser. Eine Kfz-Versicherung zum Beispiel sieht einfach aus. Manche denken, das kann doch eigentlich jeder, aber es gehört doch einiges dazu, was man können muss."

Das ist nicht nur Eigenwerbung eines Platzhirschs. "Wir haben eine Datenbank mit 2.000 Insurtechs", sagt der niederländische Fachmann Roger Peverelli, Mitgründer der Digital Insurance Agenda – Messe und Kooperationsforum für etablierte Versicherungen und Start-ups. "Die Analyse zeigt, dass etwa 10 bis 20 Prozent Herausforderer sind, die versuchen, die Branche umzukrempeln. Alle anderen helfen den traditionellen Versicherern, besser zu werden und die Innovation zu beschleunigen", so Peverelli.

Versicherer als Kunden

"Eine Versicherung aufzubauen, ist schwierig", meint auch Adrien Cohen, Verkaufschef bei dem auf künstliche Intelligenz spezialisierten britischen Start-up Tractable. "Man braucht eine Lizenz und Kapital und muss sich mit der Regulierung auskennen. Manche Start-ups in den USA haben darum den Weg gewählt, kleine Versicherer zu kaufen. Aber ich glaube, dass das nur bei speziellen Nischen der Versicherungsbranche möglich ist."

Tractable ist das Paradebeispiel eines Start-ups, das die etablierten Versicherer als Kunden und nicht als Opfer sieht: Das kleine Unternehmen hat selbstlernende Software entwickelt, die Schäden an Autos erkennen und analysieren kann. Das wird auf Dauer zwar die Arbeitsplätze von Schadensachbearbeitern in den Versicherungen bedrohen, nicht aber die Branche als solche.

Deutscher Insurtech Hub kommt

Die großen Konzerne wie die Allianz und Munich Re haben mittlerweile Konsequenzen aus dem verbreiteten Angstgefühl gezogen und erkannt, dass ihnen die Insurtech-Branche eher nützen als schaden kann. Mit Unterstützung des deutschen Bundes und mehrerer großer Versicherungen wurde 2017 ein "Insurtech Hub" in München aus der Taufe gehoben, dem größten deutschen Versicherungsstandort – einen zweiten, weniger bedeutenden "Hub" gibt es in Nordrhein-Westfalen.

"Die am Insurtech Hub München beteiligten Unternehmen repräsentieren zwischen 250 und 280 Milliarden Euro Prämieneinnahmen und 300.000 Mitarbeiter", sagt Munich-Re-Manager van den Brulle. "Wir wollen ein Ökosystem entwickeln, und das klappt ganz gut. Wir bauen die Kooperation mit Technologiefirmen wie IBM und Google und mit den Universitäten. Die Strahlkraft ist umso größer, je mehr man sich zusammentut."

Versicherer gründen selber Start-ups

Das heißt keineswegs, dass die Welt für die Versicherungsbranche wieder in schönster Ordnung wäre. Nach wie vor ist die Null-Zins-Politik der Europäischen Zentralbank (EZB) eine große Belastung, weil diese die Kapitalerträge drückt. Und der traditionelle, teure Verkauf von Versicherungspolicen über Makler und Vertreter ist durch das Online-Geschäft ebenso bedroht wie der etablierte Einzelhandel von Amazon & Co.

Doch haben sehr viele Versicherer inzwischen große Innovationsabteilungen. Manche heben sogar selbst Start-ups aus der Taufe. So ist die Allianz im vergangenen Jahr mit ihrem ausgegründeten Start-up Abracar in den Gebrauchtwagenhandel eingestiegen – eine Online-Plattform, die für Autobesitzer den Verkauf ihrer alten Wagen abwickelt. Das hat auf den ersten Blick nichts mit der Versicherungsbranche zu tun. Doch hilft es der Allianz, Kunden, Fahrzeuge und die Risiken bei der Kfz-Versicherung besser zu verstehen, wie Mitgründer Sebastian Jost erläutert. (APA, 09.03.2018)