Das neue ORF-3-Programm wird am Donnerstag präsentiert: Chefredakteurin Thurnher jongliert mit einem jährlichen Budget von zwölf Millionen Euro für Information und Kultur.

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STANDARD: Es gibt nicht wenige Leute, die sich fragen: Warum braucht es ORF 3? Der Sender steht für Information und Kultur, was genauso gut in ORF 2 stattfinden könnte. Was sagen Sie den Kritikern?

Thurnher: Warum muss es das eine oder das andere geben, und warum kann es nicht das eine und das andere sein? Was ich nicht verstehe ist, wenn Leute sagen, es ist nur in ORF 3. Dieser Daumendruck auf der Fernbedienung, um ORF 3 anzusteuern, erfordert keinen größeren Kraftaufwand als bei ORF 2. Der Sender steht genau gleich vielen Leuten zur Verfügung wie ORF 2, und ich verstehe nicht, warum das eine weniger wert sein soll als das andere. Dass wir nur für eine Minderheit Programm machen, ist völliger Quatsch. Der Sender ist für jeden verfügbar.

STANDARD: ORF 2 hat einen durchschnittlichen Marktanteil von 20 Prozent, ORF 3 erreicht weit weniger Leute.

Thurnher: Zum Glück haben wir den Sender nie anhand seiner Quoten argumentiert. Tatsache ist, dass sich ORF 3 seit seinem Start fulminant entwickelt hat und heute täglich von zehn Prozent der Bevölkerung gesehen wird. Das schaffen nicht viele Medien in diesem Land.

STANDARD: Die Regierung hat angekündigt, keinen ORF-Sender privatisieren zu wollen. Dass alle weiter Bestand haben, ist aber laut FPÖ-Stiftungsrat Norbert Steger nicht in Stein gemeißelt. Fürchten Sie um ORF 3?

Thurnher: Nein, ich fürchte nicht um ORF 3. Ich glaube, es ist ein unverzichtbarer Kanal geworden und unumstritten. Wir arbeiten daran, dass das so bleibt und sich auch noch weiter verstärkt.

STANDARD: Sie sind seit Jänner 2017 Chefredakteurin von ORF 3. Wie fällt die Bilanz aus?

Thurnher: In diesem ersten Jahr haben wir schon einiges auf den Weg gebracht. Ich denke da zum Beispiel an einige innenpolitische Dokumentationen, für die es ansonsten nirgends einen Sendeplatz gab. Auf 45 Minuten ein bisschen Rückschau halten – etwa über Aufstieg und Fall der grünen Partei, einen Rückblick auf diesen unglaublichen Bundespräsidentenwahlkampf oder die Umwälzungen, die in der SPÖ stattgefunden haben. Auf diese Dokumentation bin ich sehr stolz, denn so etwas gab es in letzter Zeit nicht im Programm. Das ist nur ein Beispiel von vielen. Oder das erweiterte Format "Inside Brüssel", wo wir seit dem Vorjahr von unterschiedlichen Orten berichten und dort eine Diskussionsrunde aufstellen – siehe etwa zuletzt Rom, jetzt Moskau, oder zu Jahresbeginn war es Washington. Anfang April wird es ein "Inside Budapest" geben.

STANDARD: Ist das Ihre Handschrift, ORF 3 ein Stück weg vom Dokumentarischen, Hintergründigen zu führen und mehr in Richtung Tagesaktualität zu verankern?

Thurnher: Ich finde, es sollte beides seinen Platz haben. Mit der herannahenden EU-Präsidentschaft gibt es die Möglichkeit, zu zeigen, dass wir auch tagesaktuell sein können. In den letzten drei Monaten haben wir sehr viel Energie und Hirnschmalz investiert, um ein Studio zu bauen, mit dem wir so etwas umsetzen können. Mit diesen technischen Möglichkeiten gibt es für mich keine Beschränkungen mehr bei der Liveberichterstattung von Ereignissen, so wie zum Beispiel Phönix in Deutschland auch ein Ereigniskanal ist, können wir das auch leisten.

STANDARD: Sie wollen ORF 3 noch mehr als Nachrichtensender positionieren?

Thurnher: Nicht nur, aber einen Teil des Tages. Das Gefäß ORF 3 kann für vieles stehen. Es kann am Abend für Heimatformate genauso stehen wie für Dokumentationen und Diskussionen aller Art, untertags kann es aber ganz andere Dinge leisten, deswegen soll man die Breite dieses Kanals gut ausnützen. Wenn wir wollen, können wir uns auch als Ereigniskanal positionieren. Das wäre mein Wunsch.

Ingrid Thurnher.
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STANDARD: Wie wird das dann konkret aussehen, wenn etwa irgendwo ein Anschlag passiert oder eine Wahl auf dem Programm steht: Welcher Kanal berichtet? ORF 2 oder ORF 3?

Thurnher: Das ist eine unternehmensstrategische Entscheidung, die nicht ich fällen kann. Ziel ist, dass wir nicht miteinander konkurrieren, das wäre völlig sinnlos, sondern dass ORF 3 ergänzend zu ORF 2 läuft. Bei einem schweren Anschlag hat auch bisher schon ORF 2 sein Programm geändert. Es gibt aber genug Ereignisse, etwa einen EU-Gipfel oder eine Pressekonferenz, die man nicht live und breit in einem Vollprogramm wie ORF 2 übertragen kann, da ist ORF 3 der richtige Kanal.

STANDARD: Etwa für die EU-Präsidentschaft?

Thurnher: Ein interessiertes Publikum kann sicher mehr von einem Gipfel vertragen als die Vorfahrt der Limousinen, die Doorstep-Interviews und dann einen kurzen Ausschnitt aus der Pressekonferenz. Für das möchte ich ORF 3 bis spätestens Herbst fit machen.

STANDARD: Neuer Programmpunkt von ORF 3 ist eine Bundeslandschiene, die werktags von 19.20 bis 19.45 Uhr läuft. Wird das eine Art "Bundesland heute"?

Thurnher: Das wird eine Mischung aus aktuellen Berichten, aber auch Geschichten, die bisher nur in den jeweiligen Landesstudios gelaufen sind. Die Kooperation mit den Landesstudios ist hier extrem wichtig. Wir möchten täglich eine Zusammenschau der interessantesten Geschichten aus den Bundesländern bringen. Etwas, das man gerne auch in Wien sieht, obwohl es in Vorarlberg entstanden ist.

STANDARD: Als eine Best-of-"Bundesland heute", ohne dass extra Beiträge für ORF 3 produziert werden.

Thurnher: Wir schauen uns die Sendungen aus den Bundesländern an und sagen in Abstimmung mit den Landesstudios: Diese Geschichte ist es wert, bundesweit gezeigt zu werden. Das Zeitfenster von 19.18 bis 19.45 ist natürlich stark umworben, das ist uns bewusst.

STANDARD: Ein weiteres neues Format nennt sich "Stammtisch" und ist eine Art "Club 2"-Nachfolger, oder?

Thurnher: Das kann man so sagen, auch wenn es ganz anders aussehen wird. Wir produzieren jetzt einen ersten Piloten und sehen, ob das nach unseren Vorstellungen klappt. Wenn ja, haben wir ein sehr innovatives Sendungskonzept.

STANDARD: Das geht unmoderiert über die Bühne und widmet sich gesellschaftspolitisch brisanten Themen, oder wie sieht die inhaltliche Ausrichtung aus?

Thurnher: Wir stellen uns das genauso vor, wie ein Stammtisch eben ist. Deswegen heißt es auch "Stammtisch". Das soll eine bunte Gästemischung aus allen möglichen Lebensbereichen sein. Die Leute reden über das, was gerade interessant ist. Am Stammtisch gibt es auch kein Thema und keinen Moderator.

STANDARD: Das heißt, es findet ohne Politiker und Experten statt?

Thurnher: Ja, ich glaube, die haben genug andere Auftrittsmöglichkeiten, die sie aber im Moment nicht wahnsinnig gerne wahrnehmen, wie mir scheint.

STANDARD: Und es läuft wie damals im Talkformat "Extrazimmer" ab, wo geraucht wurde? Serviert werden Bier und Wein?

Thurnher: (lacht) Bier und Wein können gut sein, beim Rauchen habe ich meine Zweifel. Das könnte aber leicht immer wieder Thema bei den Diskussionen sein.

STANDARD: Sollte das Konzept aufgehen: Wann und auf welchen Sendeplatz startet "Stammtisch"?

Thurnher: Ich würde es gerne ab Herbst einsetzen. Der Sendeplatz ist weniger das Thema als die budgetäre Voraussetzung, die muss man sich erarbeiten. Finanzierungen für solche Sachen aufzutreiben ist auch für mich ein neues Feld. Ich bin zuversichtlich. "Der Talk" am "ORF 3 Themenmontag" mit den neuen Moderatoren war zum Beispiel auch nur ein Plan und nicht budgetiert. Wenn es gut geht, klappt es schon und man erhält die Ausstattung, die man braucht. Zuerst Fakten schaffen, und dann sehen wir, wie es geht (lacht).

STANDARD: Am Donnerstag war Weltfrauentag. Zum Dienstantritt haben Sie gesagt, eines Ihrer Ziele bei ORF 3 sei die gezielte Förderung von Frauen – etwa für Moderationsjobs. Wie sieht der Status quo aus? Sind Sie zufrieden?

Thurnher: Eigentlich schon. Beim "ORF 3 Themenmontag" haben wir mit Marlene Kaufmann und Reiner Reitsamer ein Moderationsduo, das einen frischen Ansatz mitbringt, und die Bundesländerschiene werden hauptsächlich Frauen moderieren.

Neuer Talk am "Themenmontag" mit Marlene Kaufmann und Reiner Reitsamer.
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STANDARD: Bei "Im Zentrum" lag der Frauenanteil bei den Gästen unter Ihrer Ägide bei etwa 30 Prozent …

Thurnher: … in der Moderation lag er bei 100 Prozent, wenn ich das anmerken darf. Dafür bin ich verantwortlich, ich kann nicht beeinflussen, dass der Bundeskanzler ein Mann, der Verfassungsgerichtshofpräsident viele Jahre ein Mann war oder einfach politische Funktionsträger hauptsächlich männlich besetzt sind. Wir können nicht ein anderes Bild der Realität schaffen. Weil wir gerade den "Stammtisch" casten, kann ich Ihnen sagen, dass wir 30 bis 40 Frauen angerufen haben, um bei den Gästen 50:50 herzustellen. Bei den Herren hatten wir die drei Zusagen sehr schnell, bei den Frauen haben wir zu viert durchgerufen, bis wir drei beisammen hatten.

STANDARD: Nach rund zehn Jahren Moderation von "Im Zentrum": Kam der Tapetenwechsel für Sie genau zum richtigen Zeitpunkt?

Thurnher: Für mich auf jeden Fall. Man braucht alle paar Jahre eine neue Herausforderung, um mit frischen Gedanken und Kreativität Neues umzusetzen. Ich bin seit über 30 Jahren in diesem Geschäft tätig und habe vieles gelernt, das ich jetzt umsetzen kann. Ich habe es noch keinen einzigen Tag bereut, es ist eine grandiose Zeit.

STANDARD: Vor ein paar Wochen hat FPÖ-Mediensprecher Hans-Jörg Jenewein eine "Im Zentrum"-Sendung zum Thema Sozialdemokratie als "Propagandaveranstaltung neomarxistischer Agitatoren" bezeichnet. Sind Sie froh, dass Sie mit solchen Aussagen nicht mehr konfrontiert werden?

Thurnher: Ich sehe es nicht so, dass ich damit nicht mehr konfrontiert bin. Das betrifft unser gesamtes Unternehmen. Ganz sorgenfrei sehe ich das nicht.

STANDARD: Als ORF-3-Chefredakteurin dürften Sie politisch nicht so in der Schusslinie sein?

Thurnher: Bis jetzt hatte ich noch keine größeren Probleme. Ich sehe es aber nicht so, dass ich mich ducken kann, es betrifft einfach unser Unternehmen. Das sind wir alle.

STANDARD: In Ihrer letzten Funktion war es personifiziert, wenn man an die Tempelberg-Recherche denkt oder andere Diskussionssendungen.

Thurnher: Ja, das ist klar. Persönlich hat es noch einmal eine andere Kategorie, aber es hat schon immer was mit der Funktion etwas zu tun und nicht zwingend mit der Person. Das sollte man auch nicht verwechseln.

STANDARD: Vermissen Sie etwas an "Im Zentrum"? Die Sonntagsarbeit ist es wahrscheinlich nicht.

Thurnher: Na ja, die kann ich im Moment von Montag bis Freitag locker kompensieren (lacht). Fad ist mir nicht, auch wenn ich jetzt am Sonntag freihabe.

STANDARD: Sie haben einen Kärntner FPÖ-Politiker aufgrund eines Facebook-Postings auf Schadenersatz geklagt und gewonnen, auch wenn es noch nicht rechtskräftig ist. Armin Wolf geht nach dem Posting von Strache auch diesen Weg. Hätten Sie an seiner Stelle auch geklagt?

Thurnher: Bei mir war es so, dass er mir dezidiert ein falsches Zitat in den Mund gelegt hat. Das Fake-Posting war gegen mich persönlich gerichtet. Noch dazu war das Bildnis bearbeitet, und er hat mich als SPÖ-Mitglied ausgewiesen. Das war für mich der Grenzfall. Wird man als Gesicht genommen, das das Unternehmen repräsentiert, oder richtet es sich explizit gegen die Person? Das wollte ich nicht unwidersprochen lassen. Den Rest müssen Gerichte klären.

STANDARD: Finden Sie es richtig, dass sich immer mehr Journalisten gegen solche Diffamierungen juristisch zur Wehr setzen?

Thurnher: Das ist natürlich kein erfreulicher gegenseitiger Umgang miteinander, das ist klar. Politik und Medien sind in gewisser Weise auch voneinander abhängig. Medien haben eine Watchdog-Funktion, geht das immer mehr in Richtung ständiges Hin und Her mit Beschimpfungen und Klagen, ist das sicher nicht der optimale Umgang dieser Welten miteinander. Aber es gibt halt einfach Grenzen. (Oliver Mark, 11.3.2018)