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Brillanter Einzelgänger der US-Literatur: Joshua Cohen.

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Wien – Exzessiv ist einer dieser Hilfsausdrücke, mit dem man gattungssprengende Romane gerne versieht. Das Uferlose, über die Ränder Tretende wird damit benannt, zugleich das vermeintlich Formlose, Unübersichtliche beklagt. Doch sind nicht gerade Ambitionen in Zeiten einer schwindeln machenden Realität Gebot? Wie sonst als vielstimmig, verwirrend lässt sich eine Gegenwart vermessen, in der wir schon während U-Bahn-Fahrten in Ersatzwirklichkeiten versinken?

Exzess ist einer dieser Begriffe, auf die man in Rezensionen der Bücher von US-Schriftsteller Joshua Cohen jedenfalls oft stößt; bei seinem 800-Seiten-Roman von 2010 zum Beispiel, der lapidar Witz heißt. Das Buch erzählt die Abenteuer des letzten Juden Benjamin Israelien – alle anderen Angehörigen seines Volkes sind auf mysteriöse Weise gestorben. Ben wird zum Star, das Judentum posthum zur großen Sache, "He-Brew" zum Lieblingsgetränk. Wer sich nicht zum Judentum bekennt, landet im Camp Whateverwitz.

Zurück zu den nerdigen Anfängen

Witz ist eine Jonathan-Swift-hafte Satire eines jüdischen Autors auf eine bestimmte Gattung verkitschter Holocaustliteratur, die, so Cohen, das Sentimentale gegenüber dem Tragischen bevorzugen würde. Autoren wie Jonathan Safran Foer hat der 37-jährige Amerikaner als "weiße Burschen" bezeichnet, "die schreiben, damit sie gerngehabt werden". Schon an solchen Provokationen kann man ablesen, dass Cohen eine andere Gangart wählt. Es geht ihm aber nicht darum, um jeden Preis aufzufallen. Es geht ihm um Literatur.

Mit Buch der Zahlen ist nun ein anderes Großwerk Cohens – in Seitenzahlen: 752 – in der vorzüglichen Übersetzung von Robin Detje (Verlag Schöffling & Co.) auf Deutsch erhältlich. Es ist ein Internetroman, wie es noch keinen gab. Lichtjahre entfernt von Dave Eggers' leicht verdaulicher Social-Network-Dystopie Der Kreis, näher an Thomas Pynchons Bleeding Edge. Wie Letzterer blättert auch Cohen nochmals zu den nerdigen Anfängen des digitalen Zeitalters zurück, um die Entstehungsgeschichte eines Google-ähnlichen Unternehmens namens Tentration zu rekapitulieren.

Ausbaden einer Obsession

Wo Pynchon im Internet die Restutopie eines nichtkommerzialisierten Freiraums aufspürte, die zunehmend verlorenging, liegt bei Cohen die Anmaßung des Netzes schon in der Ausgangsidee. Buch der Zahlen ist im Mittelteil wie ein apokryphes Glaubensdokument geschrieben: Protokoll, Bekenntnis und Beichte eines größenwahnsinnigen Netzgurus, der seine Privatobsession über die Welt stülpt. Nicht umsonst ist der Roman nach dem 4. Buch Mose benannt.

Der neue Gott ist wieder einer, der alles wissen, alles hören, alles sehen – und speichern wird. Seine Propheten wollen uns bekehren. "Die Zukunft war uns immer voraus und wird es immer bleiben, aber sie dehnt sich auch hinter uns und zu unseren Seiten aus. Die Zukunft ist der Client, der Kunde, die Vergangenheit ist einfach auffindbar."

Cohen betreibt kein simples Technologiebashing, ganz im Gegenteil: Er nimmt das Internet als Evolutionssprung ernst. Dessen Verknüpfungen, dessen Sprache und Bewusstsein muss man sich literarisch stellen. In einem Interview betonte der Autor, er sei eher antimenschlich als antitechnisch gesinnt – "in dem Sinn, dass man nicht skeptisch über Technologie sprechen kann, ohne skeptisch über die Menschen zu sein". Maschinen sind immer nur Stellvertreter: "An allem sind wir schuld – an allem."

Verknüpft und verbunden

Cohen schickt im Buch der Zahlen eine Ich-Figur namens Joshua Cohen los, die Biografie eines weiteren Joshua Cohen zu schreiben. Der eine ist ein erfolgloser Autor aus New York, der durch 9/11 sein einziges Buch und damit seine Identität verloren hat; der andere der "Große Vorsitzende", der an Steve Jobs angelehnte Gründer von Tentration. Er hat mit einer kleinen Sekte den ständig wachsenden Behemoth erschaffen.

Aber auch Cohen verknüpft und verbindet, wie es ihm beliebt: Eine Geschichte, die dem Guru sein Großvater erzählt, verweist etwa auf die Diaspora. Von jedem Punkt der Erde könne man auf die Sterne zugreifen, seine persönlichen Geschichten abrufen. Dass aus dieser Vergegenwärtigung etwas anderes wird, wenn man sie mit Maschinen realisiert – auch davon erzählt dieser Roman. Und davon, wie schnell in diesen neuen Religionen Sezessionen geschehen, wie Überwachung und Leaks, Flucht und Verrat überhandnehmen – zwischen Dubai, London, Berlin und ganz zum Schluss selbst in Wien.

Glänzender Satiriker

Buch der Zahlen darf man sich jedoch nicht als moralisches Werk vorstellen, und wenn doch, dann als gut verkleidetes. Cohen ist bei aller Sprachfertigkeit, allen stilistischen Imitationen, den metatextuellen Ebenen – ganze Passagen sind wie in einem unfertigen Manuskript durchgestrichen – vor allem ein glänzender Satiriker.

Er weiß, dass es keinen einfachen Ausweg aus dem Repräsentationsdilemma gibt. Das macht sein Buch durchaus zu einer Lektürearbeit, für die man Ausdauer braucht. Es gibt einen Preis dafür, wenn man an falsche Authentizität nicht glaubt. "Lächerlich, dass Wahrheit die Form und damit die Sprache retten könnte", sagt Cohen. Damit komme man gegen Technologie und Medien nicht an. Besser also, "der Ghostwriter eines Ghostwriters zu sein". (Dominik Kamalzadeh, 11.3.2018)