Jodel hat unter Studenten eine beachtliche Popularität erreicht.

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Wer in einer Universitätsstadt wohnt und die Jodel-App öffnet, bekommt rasch einen Einblick in Alltag und Sorgen angehender Akademiker (die ausgewiesene Zielgruppe) und ihrer Altersgenossen. "Unser neuer Putzplan in der WG klappt super. Keiner hält ihn ein, und wir leugnen alle, dass es eine Küche gibt", berichtet ein Nutzer aus seinem Leben.

Thematisch auch dominant vertreten: Beziehungsfragen, Essensfotos, Fortgehtipps, Einstiegshilfe für frisch angekommene Studierende. Und gelegentlich werden Erlebnisse dokumentiert, die weit über den Äther der App hinaus resonieren – zuletzt etwa eine Nutzerin, die unfreiwillig im Gepäckraum eines Postbus mitfuhr.

Die "Jodel"-Gemeinde erstreckt sich für den Einzelnen dabei auf einen Umkreis von zehn Kilometern. Doch wer genau da gerade von seinem Techtelmechtel am Vorabend berichtet oder verzweifelt nach Uni-Skripten sucht, bleibt den Mitlesern verborgen. Es gibt keine Nutzernamen. Der Verfasser eines Beitrags wird als "Original Jodler" (OJ) gekennzeichnet, wer sich mit einem Kommentar einklinkt, erhält eine Nummer zugewiesen. Im nächsten "Jodel" haben diese Markierungen bereits keine Relevanz mehr.

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"In den Tag hineinrufen"

Der Name der Gratis-App mit dem Waschbär-Icon entspricht dem Funktionsprinzip, erklärt "Jodel"-Geschäftsführer Tim Schmitz gegenüber dem STANDARD. Die App sei so gedacht, als würde man etwas von einem Berg "in den Tag hineinrufen". Der Vorteil der Anonymität sei auch, dass es keine "Filterblase" oder einen Algorithmus gebe, der Inhalte vorselektiert. Wer Interesse an bestimmten Themen hat, kann jedoch "Channels" beitreten und den Informationsfluss für sich individualisieren.

Hervorgegangen ist Jodel aus der App TellM. Diese verfolgte ein ähnliches Prinzip, wurde allerdings als Kommunikationstool für Freunde vermarktet – ein Zugang, der sich als wenig populär erwies. Inspiriert von sogenannten "Confessions"-Facebookgruppen an US-Unis und auf Basis von Befragungen von TellM-Nutzern erfolgte schließlich ein Neustart. Während die "Confessions"-Gruppen stark dating-fixiert und aufgrund der Verwendung von Facebook auch Anonymität erschweren, verfolgt man mit dem eigenen "Messenger" einen allgemeineren Zugang.

Die App ist neben Deutschland und Österreich auch in einer Reihe anderer Länder verfügbar und verzeichnet gutes Wachstum. Wie viele Nutzer mittlerweile an Bord sind, verrät man jedoch nicht. Zuletzt nannte man 2015 eine konkrete Zahl, als man die Millionengrenze knacken konnte. Die Betreiber wissen freilich mehr von den Nutzern als die Nutzer übereinander. Man speichert IP-Adresse, Standort und Geräte-ID für begrenzte Zeit.

Einblicke in Lebenswelten

Ben ist 28 und hat in Graz ein IT-Studium absolviert. Er nutzt Jodel seit September 2017, weil es ihm einen Einblick in die Lebenswelt anderer Menschen seines Alters bietet und Themen diskutiert werden, deren Abarbeitung von Angesicht zu Angesicht schwierig ist. Er liest auch gern Debatten über aktuelle Themen mit.

Sein Eindruck der "Jodlerschaft" ist dabei aber längst nicht immer positiv. Trotz des jungen und tendenziell gebildeten Publikums empfindet er den Diskussionsverlauf bei manchen Themen oft als "engstirnig und uninformiert".

Das Karma entscheidet

Dass die Community die Regeln dabei indirekt auch selbst festlegt, hat dementsprechend nicht nur gute Seiten. Nutzer können Beiträge anderer per Klick mit "Karma" auf- oder abwerten. Erreicht ein Beitrag eine Punkteschwelle von minus fünf, so verschwindet er aus der Übersicht aller "Jodel" und wird nur noch dem Verfasser und bisherigen Kommentatoren angezeigt.

Hasspostings gehen damit ebenso schnell unter wie nicht mehrheitsfähige Meinungen. Dabei geht es, sagt Ben, nicht zwingend um politische Äußerungen. Wer im Grazer Jodel die Wiener Öffis im Vergleich lobt, findet den eigenen Beitrag schnell im digitalen Nirvana wieder.

Für Ben ergibt sich zudem der Eindruck, dass Jodel die Rivalität zwischen den Städten fördere. Dazu fühlen sich manche studentischen Nutzer unwohl damit, dass die App auch zunehmend von anderen Gruppen erschlossen wird. In Österreich, so die Betreiber, ist das Publikum allerdings noch recht homogen aufgestellt.

Wiener Jodel: Heiteres Drama im Loco

Einen fixen Messpunkt für die Art und Weise der Kommunikation auf Jodel gibt es nicht, denn die Gemeinde ist von Ort zu Ort verschieden. In Wien wird anders gejodelt als etwa in Klagenfurt oder Linz. Es gibt andere "Running Gags" und Verweise mit regionalem Bezug.

In Österreichs Hauptstadt hat sich das Gürtel-Lokal Loco für die Jodler zum Inbegriff eines Ortes für persönliche Abstürze aller Art gemausert. Gejodelt wird meist heiter bis melodramatisch, garniert mit einer Prise Wiener Grant. Jodel auf dem Land wiederum ist, bedingt durch die Standortabhängigkeit, entschleunigt und einsamer.

Schleichwerbung ist (k)ein Problem

Die zunehmende Popularität der App bringt auch Probleme, beobachtet Ben. Mitunter wenden sich Jodler mit der Beschreibung von Krankheitssymptomen an die Gemeinde, statt einen Arzt zu konsultieren. Und sie erhalten Antworten, deren Qualität kaum einschätzbar ist. Man darf auch nicht erwarten, auf jede ernsthafte Frage brauchbare Reaktionen zu bekommen. Öfters gehen hilfreiche Kommentare in einem Schwall an Scherzantworten unter.

Ben sichtet auch häufiger Schleichwerbung für Marken und Produkte. Das Jodel-Team sieht dieses Phänomen aber gelassen. Aufgrund der jeweils nur regionalen Reichweite seien solche Kampagnen aufwendig und daher nicht sehr attraktiv. Plumpe Produktplatzierungen würden von den Nutzern mittels Karma-Abzug schnell "entfernt". Werbung, die sich "durchschummelt", habe wiederum offenbar einen Mehrwert für die Nutzer, so Schmitz.

Probleme mit politisch extremen Inhalten oder Drohungen gegen andere Nutzer gibt es laut dem Geschäftsführer kaum. Wenn Nutzer Beiträge melden, geht es oft um Postings, die nahelegen, dass sich der Verfasser in einer schwierigen Lebenslage befindet und sich etwas antun könnte. Geht es um Leib und Leben, kooperiert das Jodel-Team unbürokratisch mit den Behörden, sonst nur, wenn ein Gerichtsbeschluss vorliegt.

Noch kein Geschäftsmodell

Für die nahe Zukunft liegt der Fokus der Entwickler am Wachstum der Nutzerbasis. Es sollen neue Möglichkeiten hinzukommen, damit Nutzer Inhalte finden können, die für sie persönlich relevant sind. Dafür will man auch zunehmend demografische Daten erheben.

Der Betrieb wird auf absehbare Zeit noch von Investorengeldern getragen, in der App finden sich weder Werbebanner noch Bezahlfunktionen. Wie man künftig Geld verdienen wird, ist noch offen. In Berlin hat man in der Vergangenheit schon einmal mit gesponserten Channels zum Thema Jobsuche experimentiert. Offen ist man prinzipiell für alle Ideen, klassische Bannerwerbung will man aber vermeiden und auf Formate setzen, die auch für Nutzer Mehrwert bieten können.

Jodel jagt das Uni-Sackerl

Derweil beschäftigt sich die Wiener Jodel-Gemeinde zum Semesterstart mit den praktischen Dingen des Alltags. Ein Thema dieser Tage sind die schnell vergriffenen Goodie-Bags, welche die Uni Wien an neue Studierende austeilt.

Zuspätkommer jodeln immer wieder ihren Frust über das verpasste Geschenk in den digitalen Äther. Doch hier zeigt die App ihre Stärken. Will man wissen, wo es das begehrte Sackerl noch gibt: Jodel hilft. (Georg Pichler, 10.03.2018)