Désiré (Tobias Moretti) gebraucht die Insassen eines Altenheims als Zeugen seiner Liebespein: Ein großartiger Schauspieler steht im Wiener Akademietheater auf eher verlorenem Posten.

Foto: Robert Jäger/APA

Wien – Selten ist dem physischen Verfall des Alters eine würdigere Arena errichtet worden. Im Wiener Akademietheater erhebt sich ein fünfstufiges Amphitheater vor der nackten Wand der Feuermauer (Bühne: Katrin Brack). Freundliche Altenpfleger haben noch vor Vorstellungsbeginn ein Dutzend Greisinnen in das schummrige Halbrund geleitet.

Nun genießen die würdigen Damen in den unterschiedlichsten Posen den Schlaf des Vergessens: den Kopf – als Produktionsort der Verstandestätigkeit – zur Seite geneigt oder den rüstigen Leib überhaupt der Länge nach hingestreckt. Aus der Tiefe der Metallträger aber keimt ein Wispern auf. Der ehemalige Bibliothekar Désiré (Tobias Moretti) murmelt etwas von "Rosa". Ein idealisiertes Mädchen gleichen Namens bildete einst das Ziel von Désirés unbeholfener Brautwerbung.

Rosa oder Die barmherzige Erde nennt sich auch die verschmockteste Burgtheater-Produktion seit Menschengedenken. Ihr Held zählt mutmaßlich zu den großen Verweigerern der Moderne: wie Zeno Cosini, der Verfechter der letzten Zigarette, oder wie Bart leby, der Schreiber. Geschlüpft ist Désiré aus einem Roman über Demenz, geschrieben von dem Flamen Dimitri Verhulst. Ein Mann geht sehenden Auges in eine Verwahranstalt für Schwervergessliche, nur um seiner dominanten Gemahlin zu entfliehen. Die Pointe ist offensichtlich. Irgendwann kann sich Désiré an den Grund seiner Verstellungspose nicht mehr erinnern.

In Wien hat Luk Perceval, der weise Hutträger unter den Regisseuren, den Stoff um eine weitere, entscheidende Facette bereichert. Désiré meint, seine Jugendliebe im Heim wiedergefunden zu haben. Denkt er an das Idol seiner Erweckungsjahre, so erblickt er eine blaugewandete Schönheit auf der Mauerkrone oben, die, abgewandten Blickes, den (unsichtbaren) Liebesmond anschmachtet.

Alter Ego aus Verona

Die Liebe von vor sechzig Jahren bricht sich in den erlesensten Versen der Weltliteratur Bahn: in Szenebrocken aus Romeo und Julia. Von Moretti fällt dann mit einem Mal die ganze Beschwernis des Alters als Last vom Leibe. Er kostet und schmeckt die Emphase seines Alter Egos aus Verona. Vergessen ist die entwürdigende Windel, die er am Leib trägt. Vergessen ist vor allem – paradoxerweise – das Vergessen. Denn unbarmherzig löscht die Krankheit alle Erinnerungsspuren und verwandelt für ihn Frau (Gertraud Jesserer) und Tochter (Sabine Haupt) in Agenten einer anonymen Bedrohung, während die Welt ringsum in einem immer zäher werdenden Nebel versinkt.

Unter würdigen Damen: Tobias Moretti im fünfstufigen Amphitheater des Akademietheaters.
Foto: Reinhard Maximilian Werner

Über Moretti lassen sich, des bedrückenden Stoffes ungeachtet, nur schöne Dinge sagen. Er schlurft in dicken Wollsocken über die Drehbühne, während die Pfleger (Sylvie Rohrer, Marta Kizyma, Daniel Jesch) sozusagen erste Reihe fußfrei über ihn zu Gericht sitzen. Das Haar steht ihm zu Berge wie einem noch nicht gar so alten König Lear auf der Heide. Vor allem aber entwickelt er eine wahrhaft königliche Renitenz, die noch das Entgleiten der eigenen Vernunft in stummer Erhabenheit hinnimmt.

Tragödinnenausbruch

Nun krankt Percevals Stückeinrichtung an einem bemerkenswerten Widerspruch. Sollte Désiré sich selbst tatsächlich ganz abhandengekommen sein, warum kann er aus seinem lädierten Gedächtnis derart viele Shakespeare -Verse mit Leichtigkeit hervorkramen (Moretti spricht sie mit tiefer Inbrunst)?

Drama wird aus dieser arg ausgedachten Stoffverschränkung jedenfalls keines. Jesserer legt als Désirés Gattin mit Onassis-Sonnenbrille einen Tragödinnenausbruch auf die Drehbühne. Haupt berührt als erwachsenes Töchterchen, das vor lauter Kummer auf den Schoß des dementen Papis flüchtet. Momentweise meint man zu begreifen, was Perceval an dieser Reise ans Ende der Nacht interessiert haben könnte.

Nach eineinhalb Stunden ist die Besuchszeit in der Dämmeranstalt vorüber. Die Rosa von einst ist tot, ein weißes Leintuch ziert ihren Körper. Désiré rüstet nun für den Sprung aus dem Fenster. Man hätte, ungeachtet einzelner kostbarer Augenblicke, den Aufenthalt im Traditionspflegeheim auch sein lassen können. Jubel dennoch, auch für die Komparsinnen. (Ronald Pohl, 11.3.2018)