Wer die Chance hat, verlässt Priolo Gargallo. Den etablierten Parteien misstraut die Bevölkerung.

Foto: Dominik Straub

Die Temperaturen in Sizilien sind frühlingshaft, schon fast sommerlich an diesem ersten Sonntag nach den Parlamentswahlen: Das Thermometer zeigt 24 Grad im Schatten, von der Sahara her weht der Scirocco. Rund um die zentrale Piazza von Priolo Gargallo sitzen pensionierte Männer auf den Bänken, beobachten das Kommen und Gehen auf der Hauptstraße der Kleinstadt. An der Ecke verkauft ein Landwirt Kartoffeln. Das Leben nimmt seinen gewohnten Gang in Priolo Gargallo – dabei ist das Städtchen am 4. März das Epizentrum eines politischen Erdbebens in Italien gewesen.

In dem 12.000-Einwohner-Ort Priolo Gargallo hat die Fünf-Sterne-Bewegung des Ex-Komikers Beppe Grillo bei den Parlamentswahlen 72 Prozent der Stimmen erreicht. Die Kleinstadt liegt zwischen den beiden Hafenstädten Augusta und Syrakus, wo die Protestbewegung ebenfalls weit über 50 Prozent der Stimmen erzielte. Das ist kein Zufall: In dem Dreieck Augusta-Ragusa-Syrakus, das einmal eines der größten Industriegebiete Italiens gewesen war, ist die Arbeitslosigkeit besonders hoch: In den Petrochemie-Unternehmen und der Metallindustrie der Region hatten einmal über 30.000 Menschen gearbeitet, jetzt sind es weniger als 15.000. Auch die Umweltprobleme sind gewaltig: Wegen der vielen Schadstoffe in Luft, Boden und Wasser wird die Gegend auch "Dreieck des Todes" genannt.

Falsche Versprechungen

Für den 46-jährigen Salvatore, Besitzer der "Roof Garden Bar" an der Piazza, war das Wahlresultat der Beleg dafür, "dass es die Menschen hier ganz einfach satthaben, von den nationalen und lokalen Politikern ständig mit Versprechen abgespeist zu werden". Seit sechzig Jahren sei die Politik in Sizilien verfehlt, verrottet, korrupt. Die Parteicouleur habe dabei keine Rolle gespielt – alle hätten immer nur auf sich geschaut. "Und wer nicht Teil dieser Vetternwirtschaft war, für den blieb nichts. Bei uns gibt es Familienväter, die so arm sind, dass sie für ihre Kinder nicht einmal eine ,merenda‘ (Jause für die Schule) kaufen können." Dieser Art von Politik sei nun mit der Wahl der "Grillini" eine radikale Absage erteilt worden.

In Salvatores Bar trifft sich die Jugend der Stadt; die meisten von ihnen haben keine Stelle. Die Arbeitslosigkeit in Priolo Gargallo liegt bei 26 Prozent; die Jugendarbeitslosigkeit bei über 60 Prozent. In vielen nationalen Medien wird den Wählern in Süditalien seit dem 4. März unterstellt, sie hätten das Movimento 5 Stelle von Grillo bloß gewählt, weil dieses den Menschen ein bedingungs loses Grundeinkommen von 720 Euro versprochen habe. Diese Behauptung macht die Gäste in der Bar wütend: "Wir wollen kein Grundeinkommen, wir wollen Arbeit! Verstehen Sie? Arbeit!", betont der 23-jährige Carmine, der seit seinem Lehrabschluss als Schweißer auf Arbeitssuche ist.

Mit den Parlamentswahlen ist mit aller Wucht ein Thema auf die politische Tagesordnung zurückgekehrt, das in Rom seit Jahrzehnten verdrängt wird: das Problem des armen und rückständigen Mezzogiorno. In Sizilien, Kalabrien, Kampanien, Sardinien, Basilikata, Apulien und Molise haben die Cinque Stelle zwischen 42 und 49 Prozent der Stimmen erhalten. Gleichzeitig zählen die Regionen zu den ärmsten in ganz Europa.

Braindrain ins Ausland

So ist es kein Wunder, dass die besten Köpfe Süditaliens ihre Chance im Ausland suchen. In den letzten 15 Jahren hat der Mezzogiorno auf diese Weise 200.000 Hochschulabgänger verloren – und damit Bildungsinvestitionen von 30 Milliarden Euro.

"Die Wähler haben sich für eine epochale Wende entschieden und für ein Programm, mit dem sie einverstanden waren", betont auch Francesca Dieni aus Reggio Calabria. Die 32-jährige Rechtsanwältin sitzt für die Protestbewegung in der Abgeordnetenkammer. "Die Leute suchten sich eine neue Bewegung, weil die bisherigen Parteien versagt hatten." In Reggio sei dieses politische Machtkartell besonders ausgeprägt gewesen: Die traditionellen Parteien hätten zum Teil Leute präsentiert, die zuvor mit der ’Ndrangheta, der kalabrischen Mafia, verbandelt waren.

Dieni betont, dass das von der Bewegung versprochene Grundeinkommen nichts mit "assisten zialismo" zu tun habe – also mit der berüchtigten Praxis, Subventionen gezielt an bestimmte Wählerschichten zu verteilen, um ihre Stimmen zu erhalten. Neue Jobs will die Protestbewegung mit einer Anhebung der Investitionen in Verkehr, Bildung, Gesundheitswesen und Sicherheit schaffen.

Ob eine Regierung unter der Führung der Sterne tatsächlich in der Lage wäre, dem Süden den erhofften wirtschaftlichen Schub zu vermitteln, wird sich weisen. Eine gewisse Skepsis herrscht auch im Mezzogiorno. "Man wird ja sehen, wozu die Grillini fähig sind. "Ich finde, es ist auf jeden Fall richtig, ihnen eine Chance zu geben", sagt Barbesitzer Salvatore. Die Grillini könnten die Region nicht sofort in Schwung bringen, "werden aber interessante Dinge tun". (Dominik Straub aus Priolo Gargallo, 12.3.2018)