Ein nachdenklicher Lewon Aronjan.

Berlin – Was für eine Partie! Schon im siebenten Zug bringt Wladimir Kramnik mit Schwarz spielend in Runde drei eine Neuerung, die sich als absolut tödlich erweist. Auf den ausgetretenen Pfaden der modernen Eröffnungstheorie passiert es nicht mehr oft, dass so früh ein so starker neuer Zug gefunden wird – aber es kommt vor. In diesem Fall zur Unzeit für Lewon Aronjan, der nach dieser Weißniederlage mit 1 aus 3 schon eineinhalb Punkte hinter Kramnik notiert und es nicht leicht haben wird, zurück ins Turnier zu finden.

7…Tg8!

Aber alles der Reihe nach. Die Partie beginnt bereits mit einer Überraschung im allerersten Zug: Aronjan zieht 1. e4, was bei ihm, der sich mit Weiß sonst mehr in Damenbauerneröffnungen oder englischen Gefilden zu Hause fühlt, nicht oft vorkommt. Und Kramnik lässt sich nicht lange bitten. Gestern durfte er sich die "Berliner Mauer" einmal von drüben betrachten, heute möchte er doch wieder gerne dahinter Platz nehmen. Allein, Aronjan hat an diesem Tag keine Lust auf angerührten Beton. Er wählt innerhalb der Spanischen Partie mit 4. d3 eine ruhige Nebenvariante, die sich, eben weil sie das Berlinerische effektiv vermeidet, inzwischen zu einem der Hauptgeleise dieser Eröffnung gemausert hat.

Ein paar Züge lang geht dann alles seinen gewohnten und zigfach gespielten Gang. Bis Aronjan mit 7. h3 eine unmerkliche Schwäche seines Königsflügels verursacht, um dem weißfeldrigen Läufer seines Gegners das Feld g4 zu verwehren. Kramnik antwortet nicht mit einem Entwicklungszug, sondern macht mit 7…Tg8! seine Intentionen nur allzu klar: Der g-Bauer soll brutal vorgestoßen werden. Das Ziel ist der weiße König, der auf der g-Linie durch zwei Bauern hindurch schon den Pesthauch des schwarzen Turmes riechen kann. Aber kann so ein antipositionell anmutendes Konzept aufgehen?

Kramniks Mattangriff

Ab da geht alles sehr schnell, zu schnell für Lewon Aronjan. Zuerst versucht der Weiße seinen König aus der Schusslinie zu nehmen, um dann mit logischen Zügen in der Brettmitte dagegenzuhalten, wie sie schon den ganz kleinen Schachschülern beigebracht werden: Einen Angriff auf dem Flügel soll man mit einem Gegenschlag im Zentrum kontern, so will es der Katechismus des Spiels.

Aber an diesem Tag in Berlin helfen weder Faustregeln noch der Glaube an positionelle Gesetze. Mit einem Kraftzug nach dem anderen öffnet Kramnik die Schleusen zum weißen König, seinen eigenen Monarchen braucht er nicht einmal aus der Mitte zu evakuieren. Weiß ist einfach zu unterentwickelt und schafft es nicht rechtzeitig, seine am Damenflügel auf ihren Startfeldern lungernden Figuren ins Spiel zu bringen. Schon nach zwanzig Zügen steht das Ergebnis der Partie im Grunde fest, der schwarze Angriff ist unwiderstehlich. Aronjan spielt kopfschüttelnd noch ein paar lustlose Verteidigungszüge, dann gibt er sich geschlagen – kurz bevor er mattgesetzt würde.

"Ich habe diesen Zug (7…Tg8, Anm.) vor vielen Jahren gefunden und ausführlich analysiert", erklärt Kramnik bei der Pressekonferenz nach der Partie, während Aronjan frustriert schweigt. "Aber ich hätte niemals damit gerechnet, ihn in einer so wichtigen Partie ausgerechnet gegen Lewon anbringen zu können, der ja kaum 1. e4 spielt. Ich dachte, dass ich diese Neuerung vielleicht eines Tages gegen Carlsen oder Anand spielen könnte. Das war heute großes Glück für mich. Ich konnte mich kaum an konkrete Varianten erinnern, aber die Stellung spielt sich für Schwarz sehr leicht und für Weiß sehr, sehr schwer."

Das Understatement des Siegers machte Aronjan sichtlich auch keine bessere Laune. Wladimir Kramnik jedenfalls hält nach seinem zweiten Sieg im Turnier nunmehr bei 2½ aus 3.

Von Marshall bis Najdorf

Die Dramatik eines solchen Schwarzsieges in der Partie zwischen den beiden Topfavoriten ist von den drei anderen Partien an diesem Tag natürlich kaum zu erreichen. Wesley So tut in seiner ersten Weißpartie das, was ihm wohl jeder nach seinen beiden Auftaktniederlagen geraten hätte: Er produziert ein solides Remis gegen Ding Lirens Marshall-Gambit, um wenigstens einmal anzuschreiben.

Sergej Karjakin wiederum verfolgt mit Weiß gegen Alexander Grischtschuk in einer Italienischen Partie ein interessantes Eröffnungskonzept. Anstatt zu rochieren, spielt Karjakin die Randbauernzüge a3 und h3 und stellt seinen bereits entwickelten Springer an den Brettrand. Schon wieder kein gutes Vorbild für kiebitzende Schachschüler! Aber immerhin: In dieser Partie funktioniert das logische Gegenspiel im Zentrum deutlich besser als in Aronjan vs. Kramnik, nicht zuletzt weil Grischtschuks König zu keinem Zeitpunkt in Gefahr gerät. Stattdessen muss Karjakin sich nach seinen Tempoverlusten noch ein wenig strecken, um das Gleichgewicht zu wahren, bevor das Remis nach vielfachem Figurenabtausch im 30. Zug unterschriftsreif ist.

Am längsten kämpfen Fabiano Caruana und Shakhriyar Mamedyarov miteinander um den vollen Punkt. Mamedyarovs Najdorf-Variante mündet in einer strategisch wie taktisch anspruchsvollen Stellung, in der Caruana um den 25. Zug herum mit Dame und Springer in die schwarze Stellung eindringt. Mamedyarovs Lage wirkt kritisch, aber mit einem gut getimten Qualitätsopfer befreit sich der Aseri, und nach der Zeitkontrolle scheinen wieder alle drei Resultate möglich. Nach fünfeinhalb Stunden Spielzeit ist es Caruana, der froh ist, die praktischen Probleme gelöst und das Unentschieden erreicht zu haben.

Die Ruhepause am Dienstag haben sich die Spieler nach drei Runden kämpferischen Schachs redlich verdient. Am Mittwoch um 15 Uhr MEZ wird das Turnier mit Runde vier fortgesetzt. Der alleine in Führung liegende Wladimir Kramnik trifft dann mit Weiß auf Verfolger Fabiano Caruana. (Anatol Vitouch aus Berlin, 13.3.2018)