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Wil Mirsajanow in seinem Haus in Princeton.

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2008 schrieb Mirsajanow das Buch "State Secret" über das geheime C-Waffen-Programm der Sowjetunion.

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Wil Sultanowitsch Mirsajanow wollte die Welt nicht mehr im Unklaren über das sowjetische Chemiewaffenprogramm lassen – insbesondere über das tödlichste Resultat dieser Forschung, das Nervengift Nowitschok Nr. 5.

Seit den 1970er-Jahren forschten Wissenschafter in der Sowjetunion an einer neuen Generation chemischer Kampfstoffe. 26 Jahre lang war der Chemiker Mirsajanow für das Staatliche Forschungsinstitut für organische Chemie und Technologie GosNIIOKhT in Moskau tätig. Zu seinen Aufgaben gehörten die Sicherheitsthemen, von der Überwachung der Emissionen des Produktionszentrums des GosNIIOKhT im usbekischen Nukus bis hin zur Abschirmung der Forschungseinrichtungen gegen feindliche Spionage. Anfang der 1990er-Jahre war er überrascht, wie erfolgreich er seinen Job erledigt hatte: Tatsächlich hatte der Westen keine Ahnung vom Ausmaß und dem Stand der sowjetischen Forschungen auf diesem Gebiet.

Im September 1992 schrieb Mirsajanow daher in der russischen Tageszeitung "Moskowskije Nowosti" einen Artikel über Nowitschok. Zu seiner persönlichen Absicherung wandte er sich auch an Will Englund, den Moskau-Korrespondenten der "Baltimore Sun". In der Folge wurde Mirsajanow wegen Hochverrats inhaftiert, 1994 nach einem Prozess jedoch freigelassen. Ihm wurde die Ausreise erlaubt, seither lebt er in den USA.

Tödlicher Neuling

Nowitschok bedeutet übersetzt so viel wie "Neuling". Es handelt sich dabei um einen binären Kampfstoff aus zwei relativ harmlosen Komponenten, die zusammengemischt durch Reaktion den Giftstoff ergeben. Zahlreiche unterschiedliche Varianten wurden von den Sowjetforschern entwickelt. Die zwei getrennten Bestandteile ermöglichen eine dauerhaftere und vor allem sicherere Lagerung der brisanten Gifte.

Wie der Kampfstoff VX, mit dem im Vorjahr der Anschlag auf Kim Jong-nam, den Halbbruder des nordkoreanischen Diktators Kim Jong-un, verübt wurde, gehört Nowitschok zu der Verbindungsgruppe der Organophosphate oder Phosphorsäureester. Nowitschok soll jedoch nach Angaben Mirsajanow zehnmal wirksamer als VX sein. Es hemmt in den Zellen den Abbau des Neurotransmitters Acetylcholin durch das Enzym Acetylcholinesterase. Dadurch wird das Acetylcholin sehr rasch massiv angereichert, was schließlich zu einer Atemlähmung führt.

Laborunfall

Im Jahr 1987 war der Chemiker Andrej Zhelesnjakow bei einem Zwischenfall in einem GosNIIOKhT-Labor einer kleinen Dosis Novichok ausgesetzt. Erst nach zehn Tagen erlangte er wieder das Bewusstsein. Er konnte jedoch nicht mehr gehen, als Dauerfolge litt er unter genereller Schwäche, einer Leberzirrhose, Depressionen und Konzentrationsverlust. Er starb fünf Jahre später.

Für den ehemaligen Doppelagenten Sergej Skripal besteht daher keine Hoffnung auf Heilung, sagt Mirsajanow: "Es gibt keine Heilung. Es gibt ein Antidot, aber was macht ein Antidot? Man rettet eine Person kurzfristig, die dem Gas ausgesetzt war. Man stirbt nicht sofort, aber bleibt für den Rest des Lebens behindert."

Wil Mirsajanow spricht über die Wirkung von Nowitschok.
BTMG

Getarntes Programm

Trotz internationaler Abkommen zur Abrüstung liefen die C-Waffen-Programme in der Sowjetunion als Insektizidproduktion getarnt weiter – auch während Michail Gorbatschows Perestroika. Folgerichtig erhielt der GosNIIOKhT-Direktor Victor Petrunin und der Vizechef der C-Waffen-Einheiten der Armee, Anatoli Kunzewitsch, im April 1991 für die Forschungserfolge mit dem Lenin-Orden die höchste Auszeichnung der Sowjetunion von Gorbatschow, der also offensichtlich über das Programm informiert war. Bei dessen Enttarnung durch Mirsajanow war Kunzewitsch bereits Berater von Gorbatschows Nachfolger Boris Jelzin für Fragen der chemischen Abrüstung. (Michael Vosatka, 14.3.2018)