Es handelt sich – wenigstens aus heutiger Sicht – um eine ganz merkwürdige, im Grunde schon anstößige Stelle inmitten von Foucaults im Jahr 1976 veröffentlichtem Buch "Der Wille zum Wissen. Erster Band: Sexualität und Wahrheit."

Er gibt hier einen Fall von – so würde man heute sofort sagen – sexuellem Missbrauch wieder. Foucault verwendet diesen Ausdruck jedoch bezeichnenderweise nicht. Vielmehr beschwört er in demselben lakonischen und ein wenig undurchdringlichen, gelegentlich auch zweideutigen Stil, der allen seinen Texten zu eigen ist, ein fast schon idyllisches Bild vom dürftigen Sexualleben eines umherziehenden, geistig zurückgebliebenen Landarbeiters im Jahr 1867: "[…] am Rande eines Feldes hatte er von einem kleinen Mädchen ein paar Zärtlichkeiten ergattert, wie er es früher schon getan und gesehen hatte, wie alle Burschen und Mädchen um ihn herum es taten, wenn sie am Waldrand oder im Graben der Straße, die nach Saint-Nicolas führt, das Spiel spielten, das man 'Dickemilch' nannte."¹

Foucault (links) 1982 mit dem Philosophen Alain Finkielkraut im Élysée-Palast.
Foto: APA/AFP/YVES PARIS

Unterschiedliche Auffassungen von Machtkritik

Die #MeToo-Debatte würde die Szene so interpretieren: Der geistig zurückgebliebene Landarbeiter – so arm und ausgegrenzt er tatsächlich war – würde dessen ungeachtet, strikt dem gängigen feministischen Narrativ folgend, als Inhaber patriarchalisch-männlich-ökonomischer Dominanz dargestellt werden, der seine überlegene Position ausnützt, um an einem unterlegenen weiblichen Wesen, das dazu auch noch ein wehrloses Kind ist, seine verabscheuungswürdige Perversion zu befriedigen.

So nicht bei dem Nietzscheaner Foucault. In der Tat liegt ihm solches Moralisieren stets fern, auch hier. Gerade diese Passage in seinem Werk aber hat darum unter anglo-amerikanischen Feministinnen für besondere Empörung gesorgt und heftige Debatten ausgelöst. Hier, so meint man, finde sich am deutlichsten der Nachweis, dass auch Foucault ein "sexistischer" und "typisch männlicher" Philosoph gewesen sei.²

Denn Foucault erhebt nun nicht nur keine moralisierende Anklage gegen den Landarbeiter. In den Fokus seiner kritischen Analyse stellt er vielmehr das Einschreiten der französischen Behörden, die hier, möglicherweise zum ersten Mal in der Geschichte, plötzlich das Augenmerk auf solche bislang unbeachteten und banalen dörflichen Vorkommnisse richten; die den Landarbeiter kriminalisieren, inhaftieren und zum psychiatrischen Fall machen, ja, ihn für den Rest seines Lebens wegsperren.

Die Bedeutung dieser Begebenheit, so sagt Foucault, liege "gerade in ihrer Kleinheit, darin, dass dieses Alltagsereignis in der dörflichen Sexualität, diese kleinen Lüste hinter den Büschen von einem bestimmten Augenblick an zum Gegenstand nicht bloß einer kollektiven Intoleranz, sondern einer juristischen Aktion, einer medizinischen Intervention, einer klinischen Prüfung und einer umfangreichen theoretischen Verarbeitung werden konnten."³ 

Ricarda Haaser und ihr "schwules" Fahren

15. Februar 2018, Olympische Spiele in Pyeongchang. Die Riesentorläuferin Ricarda Hasser sagt in einem Interview: "Vor allem oben war es viel besser, da bin ich nicht so schwul runtergefahren wie im ersten Lauf." Ihre Verwendung des Wortes "schwul" löst eine Welle der Empörung in den sozialen Medien aus. Schon am nächsten Tag muss sie in Absprache mit dem Österreichischen Skiverband eine öffentliche Entschuldigung posten. Dieses Vorgehen findet breite Zustimmung.

Was aber hätte sich Foucault dazu gedacht? Da er tot ist, können wir das nicht mit Sicherheit sagen. Vermuten aber können wir es. Wenn man dabei intellektuell redlich verfährt, muss man dann sofort sehen, dass eine solche Entschuldigung für all das steht, was Foucault zeit seines Lebens einer kritischen Analyse unterzogen hat.  

Auch die sich im Gefolge von #MeToo ausbreitende Zurechtweisungs- und Ermahnungskultur sowie die damit einhergehende ständige Forderung, nicht nur nach kollektiver Ächtung und Bestrafung, sondern insbesondere auch nach Einsicht und Selbstbesinnung, nach Entschuldigungs- und Unterwerfungsgesten, hätten bei ihm große Faszination ausgelöst – aber nicht, weil er sich damit solidarisiert hätte. Sondern weil er darin eine neue bombastische Ausweitung des Systems sozialer Kontrolle erkannt hätte, einen neuen Meilenstein in der Errichtung immer umfassender werdender Machttechniken, die nun, das würde er sagen, all das noch überbieten, was bisher die Schule, die katholische Beichte, das Gefängnis, die psychiatrische Anstalt oder die psychoanalytische Sitzung in die Gesellschaft implementiert haben. Den Traum einer omnipräsenten Schuld-, Disziplinierungs- und Überwachungsmaschinerie würde er hier verwirklicht sehen, der kaum mehr etwas entgehen kann, die jeden sofort zur Hölle oder in den Himmel schicken kann, bloß aufgrund eines einzigen falschen Wortes oder einer einzigen falschen Geste.

Foucault hätte sich wohl nicht mit der Zurechtweisungskultur von #MeToo solidarisiert.
Foto: APA/AFP/BERTRAND GUAY

Unglaube an Moral, Humanismus und Fortschrittsgedanken

Natürlich hätte Foucault einigen jüngeren Entwicklungen Positives abzugewinnen gewusst. Kaum wäre er jedoch dabei so naiv verfahren, bloße Verschiebungen in der Struktur der gesellschaftlichen Macht, kommen sie auch bisher ausgegrenzten gesellschaftlichen Gruppen zugute, gleich für so etwas wie große humanistische Befreiungsschläge zu halten.

So viel hat er Nietzsche schon begriffen, um zu wissen, dass die Debatten, wer moralisch besser oder schlechter ist, wer humaner ist und wer nicht, fortschrittlicher oder nicht, am Ende immer nur ein und denselben Kampf um Macht maskieren. Den hätte er in den Streitereien um korrekte Ausdrucksweisen oder das Verbannen bestimmter Vokabeln aus dem Wortschatz manifestiert gesehen. Selbst die "Ehe für alle" hätte er weniger für ein Anzeichen dafür gehalten, dass das Ende der Epoche der Diskriminierung eingeläutet worden ist, erst recht nicht für ein Einknicken der patriarchalischen Mächte gegenüber den fortgeschrittenen und angeblich toleranteren Kräften, sondern ganz im Gegenteil, als eine Ausweitung institutioneller Reglementierung auf Felder betrachtet, die sich ihnen bislang entzogen haben.

Es ist sogar wahrscheinlich, dass er nicht einmal die Anti-Rauchergesetze unter anderen Gesichtspunkten gesehen hätte, waren doch selbst Krankheiten für ihn kaum Fakten an sich, sondern in erster Linie gesellschaftliche Konstrukte zum Zwecke der Beherrschbarmachung von Individuen, der Herstellung sozialer Ordnung und der Disziplinierung menschlichen Verhaltens.

Von Foucault zur Dialektik

Natürlich muss man Foucaults Anschauungen nicht teilen. Ihn aber einfach für #MeToo und Political Correctness zu beschlagnahmen, das wird nicht so einfach möglich sein. Anscheinend wollen ihn jedoch viele nicht in seiner vollen Radikalität verstehen. Andererseits kann es nun freilich demgegenüber nicht darum gehen, vermeintlichen oder tatsächlich verloren gegangenen Freiheiten nostalgisch nachzutrauern und das Unrecht, das damit verbunden war, zu ignorieren. Das tut auch Foucault nicht.

Wenn man das widerständige Potential von Foucaults Philosophie weiterhin wachhalten und trotzdem nicht einfach zu den alten Machtstrukturen zurückkehren will, dann eignet sich jedoch vielleicht vielmehr eine Gedankenfigur dafür, die gar nicht seine eigene gewesen ist, nämlich die der Dialektik – oder um es im Stile Adornos zu sagen: die Kraft der Negation der Negation.

Mit anderen Worten: Wir sollten keine Scheu davor haben, anzuerkennen, dass uns bei all dem unbehaglich zumute ist. Bei dem, wie es früher war, aber auch bei dem, was sich jetzt entwickelt. Und wir sollten dieses Gefühl nicht dadurch zu beschwichtigen versuchen, dass wir glauben, dass wir uns eindeutig auf die eine oder andere Seite zu stellen hätten, nur weil das von uns so verlangt wird.

So wie es früher war, war es nicht in Ordnung. Was sich jetzt abzeichnet, ist aber auch nicht in Ordnung – und wer das benennt, verteidigt nicht unbedingt das, wie es früher war. Es ginge an diesem Punkt darum, das Weder-Noch nach Hegel aufrechtzuerhalten, so wenig beliebt das ist.

Die Selbstwidersprüche der Postmoderne

Schließlich gilt es aber auch festzuhalten, dass die hier aufgezeigte Problematik – nämlich der geschilderte Gegensatz zwischen Foucault und Diskursen, die ihn heutzutage für sich in Anspruch nehmen – keineswegs eine Zufälligkeit darstellt, nichts Äußerliches im Hinblick auf das gesamte Diskursfeld bezeichnet, sondern einen tieferen Grund in dessen eigenen massiven und ungeklärten inneren Widersprüchlichkeiten hat.

Vor allem ist es ein unübersichtliches, inkohärentes und unreflektiertes Verhältnis des postmodernen Diskurses zu seinen eigenen moralischen Voraussetzungen, das ich damit meine. Doch sich damit gründlicher auseinanderzusetzen, das wird vielleicht der Inhalt eines anderen Blogbeitrags werden. (Ortwin Rosner, 20.3.2018)

Fußnoten

¹ Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter.( Frankfurt am Main 1983) (= stw 716) S. 36. 
² Shelley Tremain: Educating Jouy (A case study of ableism in feminist philosophy)
³ Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1 S. 37.
⁴ Vgl. Adorno, Theodor W.: Einführung in die Dialektik. (1958) Hrsg Christoph Ziermann. (Berlin 2015) (= stw 2128).

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