ÖVP-Wahlkampfauftakt nach Maß: Sebastian Kurz hat die Hoffnungen vieler Bürgerlicher neu belebt. Nun ist er seit fast 100 Tagen Kanzler.

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Die Koalition aus Türkis und Blau gilt im Gegensatz zur Koalition aus Rot und Schwarz als "bürgerliche" Regierungsform. Wo Rot drin ist, kann es nicht bürgerlich sein, das ist der alte Reflex aus vergangenen ideologischen Debatten.

Man kann nun argumentieren, dass eine Mehrheit der Wähler eine "bürgerliche Wende" wollte, verkörpert durch den sehr bürgerlich-wohlerzogenen jungen Sebastian Kurz, aber motiviert vor allem durch das Gefühl, in Österreich entgleite etwas der Kontrolle, die Ordnung gehe verloren.

Ängste überall

Das war einerseits die Flüchtlingsbewegung, verbunden mit Überfremdungsängsten, namentlich durch die wachsende Zahl an Muslimen. Andererseits aber das Gefühl, der eigene Arbeitsplatz, die gewohnten Sozialleistungen seien in Gefahr, vor allem aufgrund der Konkurrenz durch "Ausländer", sei es von solchen, die schon länger hier sind, sei es von neu hinzugekommenen. Es mag auch eine Rolle gespielt haben, dass viele "Bürgerliche" das Gefühl hatten, nun sei es allmählich genug mit dem Ausbau des Sozialstaats, aber auch mit der Bürokratisierung, die jede selbstständige Tätigkeit lähme. Und mit einer Aushöhlung alter "bürgerlicher" Werte durch die "Ehe für alle", den "Genderwahn" und andere "Kulturkampf"-Themen.

Die Kurz-ÖVP bekam am 15. Oktober 2017 rund 31,5 Prozent, die Strache-FPÖ rund 26 Prozent. Eine satte Mehrheit von zusammen 57,5 Prozent. Ist Österreich damit "bürgerlich" geworden? Unter "bürgerlich" wird politisch meist "rechts von der Sozialdemokratie" verstanden. Schwarz/Türkis ist sozusagen per definitionem "bürgerlich". Und Blau – "Freiheitlich" – galt lange als bürgerlich im Sinne einer Honoratiorenpartei. Aber Letzteres stimmt nicht mehr. Die alte FPÖ als "freiheitliche" (= antiklerikale, deutschnationale) Honoratiorenpartei (Typus Tierarzt in Bad Aussee), jahrzehntelang immer knapp über fünf Prozent, die gibt es nicht mehr. Heute ist die Strache-FPÖ die größte Arbeiterpartei (59 Prozent aller Arbeiter, die 2017 zu den Nationalratswahlen gingen, wählten sie; die SPÖ hatte nur 19 Prozent).

Manieren sind wichtig

Phänomene wie die ultrabürgerliche Wiener Politikerin Ursula Stenzel, die von der ÖVP zur FPÖ wechselte, sind selten. Nur in einem, aber dem entscheidenden Aspekt ist die heutige FPÖ noch eine "bürgerliche" Partei. Nahezu ihre gesamte Führungselite besteht aus schlagenden Burschenschaftern, somit aus rechtsbürgerlichen Akademikern. Eine Arbeiterpartei und eine Kleinbürgerpartei, geführt von elitären, rechten Bürgerlichen, das hat etwas.

Womit es Zeit ist, sich kurz auf die Begrifflichkeit von "bürgerlich" zu verständigen. Diese hat viele Aspekte. Aber historisch und bis zu einem gewissen Grad auch heute noch bedeutet traditionelle Bürgerlichkeit im Wesentlichen so etwas wie: Fleiß, Bildung, Eigentum, Kultur, Ordnung. Nicht unwichtig: Manieren. Letztere sind übrigens recht selten geworden.

Auf einen ähnlichen Verlust traditioneller Bürgerlichkeit hat vor einiger Zeit der Autor Peter Huemer hingewiesen: den Verlust an Bewusstsein für Wahrung der Intimität – sei es in TV-Shows oder den sozialen Medien, wo jede Lebensregung "geteilt" wird. Es sei schwer, jungen Leuten klarzumachen, dass hier etwas verlorengegangen ist, was das Bürgertum einst erkämpft hatte: Privatheit.

Das klassische Bürgertum

Das klassische Bürgertum entstand im späten 18. und im 19. Jahrhundert aus einer städtischen Klasse, die es zu etwas gebracht hatte, ohne adelig zu sein, ja: die ausdrücklich gegen den Adel war. Meritokratie ("Herrschaft der Leistung") gegen "Vorrecht der Geburt". Wobei viele Meritokraten dann doch Aristokraten wurden, besonders gegen Ende der österreich-ungarischen Monarchie, weil sie der Kaiser aufgrund ihrer Verdienste in den Adelsstand erhob.

Dieses alte Besitzbürgertum, das weitgehend auch ein Bildungsbürgertum war, hatte im 20. Jahrhundert mehrere fürchterliche Aderlässe zu ertragen, nämlich zwei Weltkriege, den nationalsozialistischen Rassenmord und den kommunistischen Klassenkampf. Aber es existiert noch. Es hatte auch in einzelnen bedeutenden politischen Persönlichkeiten auf der Linken wichtige Repräsentanten: Bruno Kreisky, der aus einer jüdischen Großbürgerfamilie stammte, war mit seinen Maßanzügen, seinen Maßschuhen ("mit denen bin ich in die Emigration gegangen") und mit seiner umfassenden Bildung die Verkörperung des Bürgertums.

Bürgerlichkeit als Lebensstil

Bei Kreisky zeigte sich aber auch die besondere Qualität eines progressiven Bürgertums: das, was Jens Jessen in der "Zeit" als "die bürgerliche Freude an der steten Revision, mit anderen Worten das Institut der Kritik" bezeichnet hatte. Der Aufstieg des Bürgertums war ohne ständige Infragestellung der bestehenden Verhältnisse ursprünglich nicht möglich.

Zuletzt ist allerdings ein neues Element in die gesellschaftliche Gleichung getreten: etwas, das der Schweizer René Rhinow von der Universität Basel schon vor Jahren in der "NZZ" den "neuen Klassenkampf von rechts" genannt hat. Der Angriff auf die demokratischen Institutionen und ihr Lächerlichmachen ("Parlament als Schwatzbude"), das Leitbild einer "illiberalen Demokratie", eben der Rechtspopulismus.

Problematische Eigenschaften

Der Rechtspopulismus hat in den USA gesiegt und ist in einigen europäischen Staaten – Frankreich, den Niederlanden, Belgien, der Schweiz, auch Deutschland – sehr stark geworden. In Österreich gelangte er an die Regierung (demnächst wohl auch in Italien). In seinen Erscheinungsformen ist er bürgerlich, aber kleinbürgerlich.

"Der Kleinbürger verkörpert alle problematischen Eigenschaften des Bürgers", sagte der Kulturwissenschafter Wolfgang Müller-Funk vor Jahren in einem STANDARD-Interview. "Er ist kleinlich, berechenbar, feige, spießig, auf seinen Vorteil bedacht ... er ist argwöhnisch gegen alles Fremde und den Fremden." Man könne sagen, schloss Müller-Funk erbarmungslos, der Kleinbürger sei "die Klientel der Freiheitlichen".

An Boden verloren

Man könnte aber auch – etwas empathischer – sagen, dass dem Kleinbürger in den letzten Jahren gefühlt und objektiv der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Die Globalisierung und die Digitalisierung bedrohen den Arbeitsplatz derer, die eben noch ein ganz gutes Auskommen hatten. Ihre Qualifikation ist plötzlich nicht mehr gefragt oder wird von anderen billiger angeboten. Müller-Funk: "Die Gesellschaft ist unsicherer, dynamischer, weniger statisch. Das ist nicht nur eine gute Botschaft, und in dem Sinn leben wir auch in einer weniger bürgerlichen Gesellschaft."

Mit dem Abgehängtwerden der Kleinbürger geht aber der Aufstieg einer neuen Schicht einher: "Die Akademiker sind keine winzige Elite mehr, sondern bilden infolge der Bildungsexpansion in vielen Ländern bereits ein Drittel der Erwerbsbevölkerung", schreibt Andreas Reckwitz von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt in einem Gastkommentar in der "Zeit". Materiell seien sie in der postindustriellen Ökonomie grosso modo die Gewinner. Sie brächten auch neue, liberale Bobo-Werte mit: sexuelle Permissivität, Multikulturalität. Das seien die Hillary-Clinton-Wähler, die knapp gegen die Trump-Wähler verloren haben. Allerdings auch die, die bei den Wiener Wahlen 2015 und bei den Nationalratswahlen 2017 die SPÖ knapp vor dem Absturz bewahrten. In der Hauptsache übrigens grün-alternative Wähler.

Die offene Gesellschaft

"Bürgerlich" bedeutet eben sehr oft auch Liberalität und Neigung zur "offenen Gesellschaft", zu einer Ablehnung einer autoritären Politik, bedeutet den Willen zum humanitären Einsatz für andere. Die von der Rechten heruntergemachten "Willkommensklatscher" im Spätsommer 2015, aber auch die tausenden Freiwilligen, die sich nach wie vor in diversen NGOs um die Integration von Flüchtlingen kümmern, waren/sind ganz überwiegend (bildungs-)"bürgerliche" Menschen.

Es geht zweifellos eine gewisse Spaltung durchs Land. Die geschlossene Truppe um Sebastian Kurz hat eher rigide "bürgerliche" Vorstellungen: keine staatlichen Leistungen für "Durchschummler", Betonung der persönlichen Leistung, verschärfte Strafen für Fälle von (sexueller) Gewalt, stärkere Alimentierung der Familien. Progressiver Katholizismus hat da wenig Platz. Es ist eine nationalkonservative Bürgerlichkeit.

Autoritär gegen Liberal

Beim Koalitionspartner FPÖ herrscht im Wählervolk ein robuster antiliberaler, kleinbürgerlicher Rechtspopulismus vor, der aber Wert auf staatliche Alimentierung legt (nur eben nicht für "Ausländer"). Gesteuert wird das im Hintergrund von im Habitus bürgerlichen, in den Anschauungen rechtsrevolutionären Klassenkämpfern. Das ist am ehesten eine rechtsrevolutionäre Bürgerlichkeit.

Dem gegenüber steht eine SPÖ, die noch mit sich ringt, wie (rechts)populistisch oder wie bürgerlich-liberal sie sein soll. Daneben die Reste der linksbürgerlichen Grünen und der linkspopulistischen Liste Pilz. Die einzig traditionell bürgerlich-liberale Gruppe (auch von den Berufen ihrer Mandatare her) sind die Neos.

Das einzige, aber wichtige Bindeglied scheint eine gemeinsame Abneigung gegen autoritäre Tendenzen der ÖVP-FPÖ-Regierung zu sein. Bis zu einem gewissen Grad geht es also im Österreich der nächsten Jahren um autoritäre gegen liberale Bürgerlichkeit. (Hans Rauscher, 15.3.2018)