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Auch am Dienstagabend liefen die Versuche der Spurensicherung in Salisbury noch weiter. Noch immer ist nicht sicher, wie das Gift Nowitschok dorthin gelangte.

Foto: Reuters / Henry Nicholls

DIE TAT

Am 4. März wurden der 66-jährige Ex-Spion Sergej Skripal und seine 33-jährige Tochter Julija auf einer Parkbank vor einem Einkaufszentrum in der südenglischen Stadt Salisbury bewusstlos aufgefunden. In der Pizzeria wie auch in dem Pub, in dem sich die beiden aufgehalten hatten, wurden Spuren von Nowitschok gefunden – einem früher in der Sowjetunion produzierten Nervengift. Die Gesundheitsbehörde rief Besucher der beiden Lokale dazu auf, ihre persönlichen Gegenstände zu reinigen.

Insgesamt wurden 21 Menschen im Krankenhaus behandelt. Auch ein Polizist wurde mit schweren Symptomen eingeliefert. Untersucht werden danach neben der Pizzeria und dem Pub auch ein Friedhof und das Wohnhaus Skripals. Medien berichteten unter Berufung auf Ermittler, der Polizist sei in Skripals Haus mit dem Gift in Kontakt gekommen. Der Ex-Doppelagent und seine Tochter befanden sich am Mittwoch noch immer in kritischem Zustand.

Skripal soll den britischen Geheimdienst MI6 mit Informationen über russische Agenten in Europa versorgt haben, 2006 wurde er in Russland zu 13 Jahren Lagerhaft verurteilt. 2010 kam er im Rahmen eines Gefangenenaustauschs nach Großbritannien, wo er unter echtem Namen lebte.


DAS GIFT

Nowitschok bedeutet übersetzt so viel wie "Neuling". Es handelt sich dabei um einen binären Kampfstoff aus zwei relativ harmlosen Komponenten, die zusammengemischt durch Reaktion den Giftstoff ergeben. Die zwei getrennten Bestandteile ermöglichen eine dauerhaftere und vor allem sicherere Lagerung. Wie der Kampfstoff VX, mit dem im Vorjahr Kim Jong-nam, der Halbbruder von Nordkoreas Diktator Kim Jong-un ermordet wurde, gehört Nowitschok zu der Verbindungsgruppe der Organophosphate, soll jedoch zehnmal wirksamer als VX sein. Es hemmt in den Zellen den Abbau des Neurotransmitters Acetylcholin durch das Enzym Acetylcholinesterase. Dadurch wird das Acetylcholin sehr rasch massiv angereichert, was schließlich zu einer Atemlähmung führt.

Im Jahr 1992 machte der Chemiker Wil Mirsajanow in einem Zeitungsartikel das geheime Chemiewaffenprogramm der Sowjetunion öffentlich. In der Folge wurde Mirsajanow wegen Hochverrats inhaftiert, 1994 nach einem Prozess jedoch freigelassen. Ihm wurde die Ausreise erlaubt, seither lebt er in den USA.

Für Skripal und seine Tochter besteht wohl keine Hoffnung auf vollständige Genesung, glaubt Mirsajanow: "Es gibt keine Heilung. Es gibt ein Gegengift, aber was macht ein Gegengift? Man rettet eine Person kurzfristig, die dem Gift ausgesetzt war. Man stirbt nicht sofort, aber man bleibt für den Rest des Lebens behindert."

DIE FOLGEN

Die düsteren Aussichten weckten auch Erinnerungen an die Ermordung des russischen Ex-Agenten Alexander Litwinenko, der 2006 in London radioaktiv vergiftet worden war. Laut britischen Ermittlungen sollen russische Agenten den damaligen Mord auf dem Gewissen haben. Bereits am Tag nach dem Anschlag von Salisbury brachte Außenminister Boris Johnson auch diesmal eine mögliche Verbindung nach Moskau und etwaige Sanktionen ins Spiel.

Der Kreml wies jede Schuld von sich. Der Verdacht habe "ja nicht lange auf sich warten lassen", hieß es. Als jedoch klar wurde, dass das verwendete Gift in der früheren Sowjetunion entwickelt worden war, verhärteten sich die Fronten. Die britische Premierministerin Theresa May erklärte am Montag, Russland sei "höchstwahrscheinlich" für die Tat verantwortlich. Moskau müsse bis Dienstagabend erklären, wie es zum Einsatz des Nervengifts auf britischem Boden kommen konnte. Andernfalls würde man von "Gewalt des russischen Staates gegen das Vereinigte Königreich" ausgehen und drastische Maßnahmen ergreifen. Das russische Außenministerium nannte Mays Vorwürfe "verrückt".

Zusätzliches Öl ins Feuer goss am Dienstag die Nachricht, dass ein anderer russischer Exilant tot in London aufgefunden wurde. Nikolai Gluschkow war einst Geschäftspartner des 2013 erhängt aufgefundenen Kreml-Kritikers Boris Beresowski.

DIE REAKTION

Nachdem Moskau das britische Ultimatum verstreichen ließ, macht London nun offiziell Russland für den Angriff verantwortlich und weist 23 als Diplomaten getarnte Spione aus. Außerdem sollen neue Finanzmaßnahmen russischen Oligarchen den Zugang zu ihren britischen Konten erschweren. May sprach von einem "nicht deklarierten Chemiewaffenprogramm", das gegen internationales Recht verstoße.

London werde den Sachverhalt bei der Uno sowie bei der Organisation zum Verbot chemischer Waffen (OPCW) in Den Haag zur Sprache bringen. Den angekündigten Besuch des Moskauer Außenministers Sergej Lawrow in London sagte May ebenso ab wie Besuche von britischen Ministern und von Prinz William bei der bevorstehenden Fußball-WM in Russland.

Die Nato-Staaten äußerten sich am Mittwoch in einer gemeinsamen Stellungnahme beunruhigt über den ersten Einsatz von Nervengas auf ihrem Gebiet seit Gründung des Bündnisses 1949. EU-Ratspräsident Donald Tusk sagte May via Twitter die "volle Solidarität" der Europäischen Union zu. Auch die US-Regierung gibt der britischen Premierministerin Theresa May demonstrativ Rückendeckung bei ihrem Vorgehen gegen Russland. Das Präsidialamt erklärte am Mittwoch, die USA teilten die Einschätzung Großbritanniens, dass Russland hinter dem Angriff stecke. Mays Entscheidung, 23 Diplomaten auszuweisen, sei eine "gerechte Antwort". Zudem machte die UN-Botschafterin der USA, Nikki Haley, bei einer Sitzung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen ebenfalls Moskau für das Giftattentat verantwortlich. Sie rief das UN-Gremium auf, "umgehend konkrete Maßnahmen" zu ergreifen.

In einer gemeinsamen Erklärung haben sich die USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland am Donnerstag "entsetzt" gezeigt über den Giftanschlag und Russland zur Aufklärung aufgefordert. "Es handelt sich um einen Übergriff gegen die Souveränität des Vereinigten Königreichs" und einen Verstoß gegen das Völkerrecht, heißt es in der Erklärung der Regierungschefs. Auch US-Präsident Donald Trump selbst meldete sich am Nachmittag erstmals deutlich zu Wort. Es "sieht so aus", als stecke Moskau hinter dem Giftanschlag auf Skripal, sagte er.

Russland wiederum kündigte ebenfalls an, bald britische Diplomaten des Landes verweisen. Man werde mit den Ausweisungen in Kürze beginnen, zitierte die Nachrichtenagentur RIA den russischen Außenminister Sergej Lawrow am Donnerstag.

DER WAHLKAMPF

Klein beigeben wird Russland in der Affäre jedenfalls nicht. Schon deshalb, weil die Präsidentenwahl vor der Tür steht. Am 18. März will sich Wladimir Putin, der seit 18 Jahren an der Macht ist, für weitere sechs Jahre im Amt bestätigen lassen. Sein Sieg bereits in der ersten Runde gilt als sicher. Trotzdem will der Kreml seine Anhänger so stark es geht mobilisieren. Laut dem Soziologen Andrej Kolesnikow vom Carnegie-Zentrum ist der mediale Aufruhr um die Vergiftung Skripals zumindest ein gutes Instrument dazu.

Der Vorfall könne – ähnlich wie der Abschuss der Malaysia-Airlines-Maschine 2014 über dem Donbass – die patriotischen Gefühle vieler Russen steigern, so Kolesnikow. Damals hatten russische Medien widersprüchliche Theorien gestreut, um den Eindruck zu erzeugen, es handle sich um ein Komplott. Ähnlich wurde der Ausschluss des russischen Teams bei Olympia wegen zahlreicher Dopingvergehen als Verschwörung des Westens verkauft. Auch im aktuellen Fall deuten viele Kommentare russischer Medien auf das gleiche Argumentationsmuster hin. Dessen Kern: Alle diese Affären dienten nur dazu, Russophobie im Westen zu schüren und weiter auf Russland herumhacken zu können.

OFFENE FRAGEN

Ob und wie der Tod des bereits erwähnten Nikolai Gluschkow, dessen Leiche vor kurzem in London entdeckt wurde, auch mit dem Fall Sergej Skripal in Verbindung stehen könnte, ist derzeit Gegenstand von Ermittlungen. Die britischen Behörden jedenfalls wollen insgesamt mehr als ein Dutzend weiterer Todesfälle mit einer möglichen Verbindung nach Moskau erneut untersuchen. Die Fälle reichen zum Teil mehr als zehn Jahre zurück. Darunter ist auch der Tod von Boris Beresowski selbst, dem prominenten Putin-Kritiker und ehemaligen Geschäftspartner Gluschkows.

Unklar ist auch, wie Skripal und seine Tochter eigentlich mit dem Gift in Kontakt gekommen sind. Schmuggelte es jemand in ihr Essen? Steckte es möglicherweise in einem Päckchen oder Geschenk, das Julija Skripal aus Moskau mitbrachte? Oder wurde das Gift per Kurierdienst geliefert? (André Ballin aus Moskau, Sebastian Borger aus London, Noura Maan, Gerald Schubert, Michael Vosatka, 15.3.2018)