Beste Parteifeinde: Kemal Kılıçdaroğlu (re.) wurde zwar noch einmal als Vorsitzender der Republikanischen Volkspartei (CHP) wiedergewählt. Sein Herausforderer, der rechts stehende Muharrem İnce, aber gilt schon als Nachfolger, sollte die säkulare Kemalistenpartei eine weitere Wahlniederlage einfahren.

AFP / Adem Altan

Einmal vier Finger, einmal zwei Finger: Der türkische Staatschef Tayyip Erdoğan umwirbt die ultranationale Wählerschaft in seinem Land nun ebenso wie die islamistische. Vier Finger sind das "Rabia"-Zeichen der Anhänger des gestürzten ägyptischen Präsidenten Mohammed Morsi, deren Protest auf dem Rabaa-al-Adawiya-Platz in Kairo vom ägyptischen Militär im Sommer 2013 mit einem Massaker beendet wurde. Zwei Finger aber, die Hand mit Daumen und kleinem Finger abgespreizt, sollen den Kopf eines Wolfs mit seinen Ohren symbolisieren. Sie sind der Gruß der türkischen Nationalisten.

Erdoğan zeigte am vergangenen Wochenende bei einer Rede in der türkischen Hafenstadt Mersin wie so häufig die vier Islamistenfinger, dann aber erstmals auch die zwei Wolfsohren. Denn der Präsident braucht bei der nächsten Wahl wohl die Stimmen beider Lager, um über die Marke von 50 Prozent zu kommen.

Tayyip Erdoğan umwirbt mit dem Symbol aus zwei Fingern die ultranationale, mit dem aus vier Fingern die islamistische Wählerschaft.
Haber Meydani

Während Erdoğans Bündnis mit den Nationalisten besiegelt ist und Gesetzesänderungen für gemeinsame Listen seiner konservativ-religiösen Regierungspartei AKP und der rechtsgerichteten MHP am Mittwoch in einer Nachtsitzung durch das Parlament gingen, gerät die größte Oppositionspartei immer mehr ins Schlingern.

Ungewolltes Ja zu Afrin

Der Krieg in der syrischen Provinz Afrin ist das eine Problem. Die Partei müsse aus patriotischen Gründen Ja dazu sagen, obwohl jeder wisse, dass Erdoğan diesen Krieg nur aus innenpolitischen Kalkül losgetreten habe, heißt es bei der Republikanischen Volkspartei (CHP). Doch dann plagt sich die Oppositionspartei auch mit sich selbst. Alles, was sie zuletzt gegen Erdoğan aufbot – den Gerechtigkeitsmarsch von Ankara nach Istanbul oder die Enthüllungen über Geldtransfers der Erdoğan-Familie von der Steueroase Isle of Man aus –, scheint zu verpuffen. Der Frust über die eigene Erfolglosigkeit macht den Kemalisten zu schaffen.

CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu schlug bei einem Sonderparteitag in Ankara vergangene Woche ungewohnt harsche Töne an, um die Disziplin wiederherzustellen. Den Parlamentsabgeordneten seiner Partei verpasste der sonst so freundlich wirkende Vorsitzende einen Maulkorb: Wer von jetzt an ohne Genehmigung in politischen Talkshows im Fernsehen auftrete, habe keinen Platz mehr in der Partei, kündigte Kılıçdaroğlu an.

Nachfolger im Startloch

Dem 69-Jährigen bläst der Wind ins Gesicht. Aus dem Parteitag im Vormonat ging Kılıçdaroğlu geschwächt hervor, so hört man auch innerhalb der CHP. Sein Gegenspieler, der eloquente, häufig aggressiv auftretende Muharrem İnce erhielt bei der Vorsitzendenwahl wie schon beim Parteitag 2014 ein Drittel der Delegiertenstimmen. Das war weniger eine Niederlage als eine Machtdemonstration. Dass İnce, der raubeinige Abgeordnete aus Yalova am Marmarameer, beim nächsten Anlauf die säkulare einstige Staatspartei übernimmt, gilt nun als absehbar. Denn eine weitere verlorene Parlaments- und Präsidentenwahl gegen Erdoğan würde die CHP wohl nicht mehr ohne Wechsel an der Parteispitze wegstecken.

Dass Kılıçdaroğlu nur einen Monat später einen Sonderparteitag in Ankara anberaumte, um eine Reihe von Änderungen im Parteistatut durchzusetzen, erschien vielen als ein wenig durchdachtes Wagnis. Sie bekamen auch recht. Kılıçdaroğlu, der in bald acht Jahren an der Spitze der CHP die alte kemalistische Partei in Richtung westeuropäische Sozialdemokratie zu bugsieren versuchte, musste erneut eine Schlappe hinnehmen. Über die wichtigste Satzungsänderung wurde auf dem Parteitag so sehr gestritten, dass Kılıçdaroğlu am Ende auf eine Abstimmung verzichtete.

Aufruf der 48

48 Parlamentarier der CHP hatten im Vorfeld schon einen Aufruf veröffentlicht und gegen ein "antidemokratisches Verständnis" der Parteileitung protestiert. Im Mittelpunkt stand Kılıçdaroğlus Versuch, die von ihm selbst eingeführte Basiswahl für Parlamentskandidaten wieder einzuschränken. In Provinzen, in denen die CHP keinen oder nur einen Abgeordneten bei der Parlamentswahl durchgebracht hatte, sollte der Parteichef – wie sonst üblich in der Türkei – in Eigenregie bestimmen können, wer kandidieren darf. Kılıçdaroğlu wollte mehr Spielraum haben. Dagegen regte sich Widerstand sowohl von dem rechts stehenden İnce wie von der weiter links von Kılıçdaroğlu einzuordnenden Gruppe um die frühere Parteisprecherin Selin Sayek Böke und den einstigen Staatsanwalt İlhan Cihaner.

Identitätskrise der Partei

Das Rumoren in der Partei, die bei Wahlen seit Jahren nicht über 25 Prozent hinauskommt, gilt vielen Beobachtern als Ausdruck einer Identitätskrise. Kaum einer in der CHP vermag derzeit zu sagen, wo genau die Partei nun steht. Und wohin sie soll: lieber zurück zum alten Kemalismus mit dessen Verehrung für die Armee? Oder im Gegenteil entschlossener nach links? Oder aber sollte sie sich auf ihre nationalistische Strömung konzentrieren? Von der Positionierung hängt ab, wie die größte Oppositionspartei der Türkei in die nächsten Parlaments- und Präsidentenwahlen geht – allein oder im Bündnis mit anderen Parteien.

Erdoğan gibt hier die Richtung vor. Der Staats- und Parteichef ist jetzt dabei, einen weiteren Teil des politischen Systems der Türkei umzustürzen, indem er das Verbot von Wahlbündnissen aufhebt, aber gleichzeitig die sehr hohe Sperrklausel von zehn Prozent aufrechterhält. Kleine Parteien, die nie eine Chance hätten, ins Parlament einzuziehen, aber nun eine Allianz eingehen, wie etwa die jetzt allseits umworbene islamistische Saadet-Partei, können plötzlich zum Mehrheitsbeschaffer werden. Und Erdoğan wird den Wahltermin bestimmen, der ihm günstig scheint – den regulären im November 2019 oder einen vorgezogenen, möglicherweise schon diesen Sommer um den Jahrestag des Putschversuchs vom 15. Juli 2016 herum.

Bündnisfrage offen

Kılıçdaroğlus Sozialdemokraten bringt das zusätzlich in eine schwierige Lage. Derzeit ist unklar, ob die CHP mit einem eigenen Kandidaten in die Präsidentenwahl gegen Erdoğan zieht; aber auch, ob die Partei für die am selben Tag stattfindende Parlamentswahl Verbündete suchen soll. Die prokurdische Minderheitenpartei HDP scheidet als Partner bereits aus. Ihre Kriminalisierung durch die politische Führung in der Türkei macht sie nach dem Dafürhalten von CHP-Funktionären "ansteckend" und unberührbar.

Bleiben nur einige kleine Linksparteien oder aber die neue rechtsnationalistische İyi Parti, die "gute Partei" von Meral Akşener, einer ehemaligen führenden Politikerin der MHP. Akşener aber, so zeigen die Umfragen, zieht viel mehr Wähler von der CHP als von Erdoğans AKP ab. Ein Wahlbündnis mit anderen Oppositionsparteien jedoch, so viel zumindest ist den Sozialdemokraten klar, ist die einzige Chance, um den Einmannstaat von Tayyip Erdoğan noch zu verhindern. (Markus Bernath, 15.3.2018)