Am Donnerstag ist der Syrien-Konflikt sieben Jahre alt geworden, auch sonst wird die Welt von zahlreichen anderen Krisen erschüttert. Anna Neistat hat viele dieser Krisengebiete bereist, um mögliche Menschrechtsverbrechen zu dokumentieren. Im STANDARD-Interview erklärt die Leiterin der globalen Rechercheabteilung bei Amnesty International, wie es aktuell um die Menschenrechte bestellt ist, was man in Krisengebieten beachten muss und was sie an dieser nicht ungefährlichen Arbeit reizt.

STANDARD: Der Syrien-Konflikt geht gerade in sein achtes Jahr. Sie waren – schwanger – dort an der Kriegsfront, wie wir spätestens seit der Dokumentation "E-Team" wissen. Welche Erfahrungen haben Sie in Syrien gemacht?

Neistat: Als ich 2011 in Syrien war, fand gerade der Arabische Frühling statt, Regime wie jenes in Syrien sind zu der Zeit gefallen. Viele dort hatten die Hoffnung, dass es in Damaskus auch dazu kommen wird. Die Proteste wurden rasch niedergeschlagen, umso wichtiger war es, ins Land zu kommen, auch wenn es schwierig war. Ich hatte dann lange die Illusion, wenn wir erst einmal die ganzen Verbrechen in Syrien aufdecken, dass dies die Sache zum Guten wenden wird.

Damals war das auch noch ein ganz anderer, ein klarerer Konflikt als heute. Es gab ein Regime, und es gab Rebellen, es gab aber noch keinen IS oder sonstige Gruppierungen. Aber mit dem ersten Einsatz von Chemiewaffen war klar: Wenn diese rote Linie ungestraft überschritten werden kann, gilt das auch für jede andere rote Linie. Nun bin ich angesichts der Lage und der Komplexität des Konflikts in Syrien einfach nur verzweifelt.


Trailer der Dokumentation "E-Team".
Netflix

STANDARD: Sie haben die Hoffnung für Syrien also aufgegeben?

Neistat: Ich habe immer Hoffnung, das ist mein größtes Problem, deshalb mache ich auch diese Arbeit. Meine Hoffnung ist, dass irgendwann jeder Konflikt einmal endet, zumindest in militärischer Hinsicht. Die Tötungen werden dann zurückgehen, meine größte Sorge wird dann aber sein, dass syrische Zivilisten zwischen all den verschiedenen Gruppierungen aufgerieben werden, dass sie weiterhin über Jahre in Unsicherheit leben.

STANDARD: In einem Beitrag für die "Huffington Post" haben Sie die Uno kritisiert, weil sie nichts macht, um das Leid der Menschen in Konflikten wie in Syrien, im Jemen oder im Südsudan zu beenden. Von dieser Seite ist also nichts zu erwarten?

Neistat: Sie könnte, ob sie will, ist eine andere Frage. Diese selbstauferlegte Impotenz der Uno ist nicht etwas, was wir einfach als gege-ben hinnehmen sollten. Der UN-Sicherheitsrat ist blockiert, aber es gibt auch die UN-Generalversammlung. Und der Generalsekretär wäre der, der das Thema dort einbringen könnte. Zudem haben wir den UN-Menschenrechtsrat und weitere Kommissionen, um etwas zu ändern, aber es gibt keinen politischen Willen, das auch wirklich zu machen. Das zeigt, welche Bedeutung Menschenrechte derzeit haben. Und damit meine ich nicht nur für China oder Russland, sondern auch für die USA oder Großbritannien.

Für eine möglichst unauffällige Recherche in Syrien hatte sich Anna Neistat entsprechend gekleidet.
Foto: Netflix

STANDARD: Man hat das Gefühl, weltweit gibt es mehr Krisen denn je. Hat sich die globale Menschenrechtslage verschlechtert?

Neistat: Das mag seltsam klingen angesichts dessen, was ich bisher gesagt habe, aber wenn wir das über die vergangenen 50, 60 Jahre betrachten, hat sich die Lage dramatisch verbessert. Die Zahl der zivilen Opfer in Konflikten hat sich deutlich reduziert. Und: Die Menschenrechte werden zwar oft nicht eingehalten, aber wenn Kriegsakteure etwa ein Krankenhaus bombardieren, versuchen sie das zu vertuschen, weil sie wissen, dass sie gegen etwas verstoßen. Es gibt also überall das Bewusstsein für die Menschenrechte, für entsprechende Institutionen. Mein erster Kriegseinsatz war in Tschetschenien, und als ich dort mit Rebellen sprach und ihnen sagte, für ihre Taten könnten sie nach Den Haag kommen, wussten sie, wovon ich sprach. Sie kannten den Internationalen Strafgerichtshof.

In den vergangenen Jahren hat sich die Situation aber wieder verschlechtert. Bislang war das Problem immer, ob sich Akteure an die Menschenrechte halten oder nicht. Nun aber wird von Akteuren die Allgemeingültigkeit von Menschenrechten überhaupt infrage gestellt. Das ist etwas, was mir Sorgen bereitet, mehr als jeder aktuelle Konflikt, wie blutig er auch sein mag. Ich fürchte, das wird uns noch die nächsten 20 Jahre beschäftigen.

STANDARD: Wie kommen Sie vor Ort überhaupt an Ihre Informationen? Klopfen Sie einfach an der Tür?

Neistat: Das ist von Land zu Land unterschiedlich. In vielen Ländern haben wir ein Netzwerk von lokalen und internationalen Partnern, die in der Regel wissen, wo man mit wem reden muss, um an Informationen zu kommen. Und dann gibt es Situationen, wo man wirklich an der Tür klopft, um herauszufinden, was passiert ist. Es gibt auf der Welt Länder, die menschrechtliche Wüsten sind. Dort gibt es keine Organisationen dafür, keine Journalisten, die darüber berichten. Da muss man sich Schritt für Schritt annähern, um herauszufinden, ob ein Verbrechen stattgefunden hat.

Am Mittwoch hielt Anna Neistat in Wien einen Vortrag über ihre Arbeit in Krisengebieten.
Foto: Christopher Glanzl

STANDARD: Sie sind bei Amnesty unter anderem dafür verantwortlich, neue investigative Methoden zu entwickeln und Ihre Mitarbeiter auszubilden. Was ist Ihr wichtigster Ratschlag für die Arbeit in Krisengebieten?

Neistat: Ich sage immer, man hat drei Funktionen zu erfüllen. Erstens ist man ein Journalist, weil man die Schicksale der Betroffenen erzählen muss. Zweitens ist man ein Kriminalermittler. Man muss so lange dranbleiben, bis alle Fragen geklärt sind, alle Faktoren eines Verbrechens berücksichtigt wurden. Schließlich ist man, ohne es zu wollen, ein Therapeut. Meistens ein schlechter, weil einem dafür die Ausbildung fehlt. Wenn man mit traumatisierten Menschen darüber redet, was ihnen passiert ist, kommt es bei ihnen zu einer Retraumatisierung, da muss man sehr vorsichtig vorgehen.

STANDARD: Was ist mit dem Faktor Gefahr in Krisengebieten?

Neistat: Mittlerweile werfen wir die Leute nicht mehr einfach so in Krisengebiete, wie das zu meiner Anfangszeit war. Es gibt nun ein umfangreiches Training in vielen Bereichen. Ich kann mich noch erinnern, ich war gerade 20 Tage in meinem ersten Job, da saß ich schon im Flugzeug auf dem Weg nach Tschetschenien. Nun schicken wir niemanden mehr in ein aktives Kriegsgebiet, erst recht niemanden, der gerade den Job begonnen hat. Abgesehen davon kann jeder Nein sagen, wir sind nicht das Militär. Auch wenn selten jemand bei uns Nein sagt.

STANDARD: Wie funktionieren die Mechanismen, wenn plötzlich eine Krise ausbricht?

Neistat: Nehmen wir Myanmar als aktuelles Beispiel. Wir bekommen die Infos von unseren Kontakten dort oder ansonsten über die Medien. Die ersten 24 Stunden versuchen wir, aus der Entfernung an Infos zu kommen, je nach Informationslage veröffentlichen wir Stellungnahmen zur aktuellen Entwicklung. Dann entsenden wir ein Krisenteam, wenn die Situation das zulässt.

Bei Breaking News wie in Myanmar beauftragen wir auch gleich unsere technischen Experten. Es geht nicht mehr nur darum, Aussagen von Betroffenen und Fotos zu haben, sondern auch darum, Satellitenbilder zu vergleichen. Wenn beispielsweise Dörfer zerstört wurden, kann man das mittels Satellitenbildern nachweisen. Das ist ein Beweis, der schwer zu widerlegen ist. Interessant wird es erst danach. Nimmt man andauernde Konflikte wie Syrien, so ist es oft nicht die größte Herausforderung, vor Ort zu sein, sondern die Öffentlichkeit daran zu hindern, den Konflikt zu vergessen.

STANDARD: Wieso machen Sie eigentlich diesen Job, der ja gefährlich und frustrierend zugleich sein kann?

Neistat: Ich bin in der Sowjetunion aufgewachsen und habe gesehen, wie dieses Regime zusammengefallen ist. Dieser Moment, zu sehen, wie anscheinend unzerstörbare Systeme ein Ende haben, hat mir gezeigt: Ja, Veränderung ist möglich, egal, wie lange es dauert. Eine Erfahrung, die mich in diese Notfallarbeit hineingezogen hat: Nachdem ich im Tschetschenienkrieg vor Ort war, habe ich mich geweigert, hinzunehmen, was Menschen anderen antun können. Das hat für mich zu der absoluten Überzeugung geführt, dass die Bösen nie gewinnen dürfen. Ich werde alles tun, um das zu verhindern. Ich habe nicht zu Ratko Mladic ermittelt, aber ihn hinter zu Gittern sehen war eine meiner stärksten Erinnerungen des letzten Jahres.

Und schließlich: In Krisengebieten erlebt man Gefühle in ihrer stärksten und reinsten Form. Es kann Wut sein, Trauer, aber unter diesen extremen Bedingungen auch Mut oder Widerstandsfähigkeit. Etwas, was man sonst nirgends sieht. Das ist ein Anreiz, weshalb ich diesen Job mache. (Kim Son Hoang, 16.3.2018)