Wien – Eigentlich wollten Andrey I. und zwei seiner Freunde am 20. Oktober einen gemütlichen Abend in einem Lokal in der Favoritenstraße verbringen. Der Plan ging nicht auf: Der 17-jährige Bulgare ist nun mit einer Anklage wegen Mordversuchs vor dem Geschworenengericht unter Vorsitz von Beate Matschnig, da er einen 16-jährigen Kontrahenten vor dem Café Monte mit einem Springmesser fast erstochen hat.

Liest man nur die Anklageschrift, scheint die Sache klar zu sein: Zwischen zwei Gruppen Jugendlicher soll es zu einem Streit um die Rechnung gekommen sein, bei der anschließenden Auseinandersetzung erlitt Angeklagter I. einen Daumenbruch, sein Gegner jedoch bis zu zehn Stich- und Schnittwunden in Kopf, Gesicht und Brustbereich, an denen er beinahe gestorben wäre.

Es liegt also am unbescholtenen Angeklagten und seinem Verteidiger Robert Baum, die Geschworenen davon zu überzeugen, dass die Sache anders ist, als sie scheint – und es sich in Wahrheit um Notwehr gehandelt hat.

Billard mit zwei Freunden

I. lebt seit sieben Jahren mit seiner Familie in Wien und wollte eigentlich am Montag nach dem Vorfall eine Lehre beginnen. Am fraglichen Abend spielte man zu dritt im Monte Billard, als zwei andere Jugendliche kamen, sich an einen Tisch setzten und Bier bestellten.

Zwischen den beiden Gruppen kam es in der Folge zu einer schwer nachvollziehbaren Bargeldtransaktion. Einer der Neuankömmlinge gab I. Bares, mit dem I. wiederum anschließend die Rechnung der Neuankömmlinge begleichen sollte. I. sagt, er habe einen Zehneuroschein und kleinere Münzen erhalten und sei um ein Geschenk von 30 Cent gebeten worden. Der andere behauptet, dem Angeklagten 21 Euro gegeben zu haben.

Als die Kellnerin von den beiden Neuankömmlingen 21 Euro für vier Bier kassieren wollte, wurden sie an das Trio mit I. verwiesen. "Ich bin zum Tisch gegangen und habe gesagt, so viel zahl ich nicht, ich habe nur 13 oder 14 Euro bekommen, die habe ich auf den Tisch gelegt", erinnert sich der Angeklagte. Der später schwer verletzte 16-Jährige habe daraufhin gedroht, alle drei zu verprügeln. "Er hat auch gesagt: 'Du hast unser Geld genommen, jetzt musst Du alles zahlen.'"

Springmesser vom Flohmarkt

Das Trio verließ das Lokal, wurde nach einigen Metern aber vom 16-Jährigen zurückgerufen. Laut Angeklagten habe ihn der Kontrahent sofort geschlagen und zu Boden gebracht, er habe in seiner Verzweiflung nach dem Messer in seiner Hosentasche gekramt.

"Warum haben Sie überhaupt ein Messer eingesteckt?", will Matschnig wissen. "Das habe ich vom Flohmarkt." – "Das ist noch immer kein Grund." – "Ich habe es mir gekauft. Es hat mir gefallen", weicht der Teenager weiter aus. "Was sagen Ihre Eltern dazu, dass Sie eine verbotene Waffen haben?" – "Die wussten das nicht."

Er könne sich an Details nicht mehr erinnern, er habe nur versucht, mit dem Messer Schläge des Gegners abzuwehren. Er bemerkte zwar, dass er ihn getroffen hatte, aber nicht, wo. Als der 16-Jährige von ihm abließ, habe er bemerkt, dass der andere blutete, daraufhin seien er und seine Freunde davongelaufen.

Flucht in die Niederlande

Daheim erzählte I. seinen Eltern, was passiert war, und klagte über Schmerzen in der Hand. Man fuhr ins AKH, wo ein Daumenbruch diagnostiziert wurde. Danach ging die Familie aber nicht zur Polizei – sondern flüchtete in die Niederlande zu Verwandten. "Warum?", will die Vorsitzende wissen. "Eine Cousine hat angerufen, dass ich via Facebook von den Türken gesucht werde. Wir hatten alle Angst", antwortet der Angeklagte. Nach einer Woche kam er zurück und stellte sich.

Was Beisitzer Daniel Potmesil und Privatbeteiligtenvertreter Nikolaus Rast nicht ganz einleuchten will, sind die Prügel, die I. bezogen haben soll. Angeblich habe er ein blaues Auge und Wunden an Lippe und Augenbraue gehabt. "Warum steht davon nichts im AKH-Befund?", wundert sich Potmesil. "Ich habe nur gesagt, dass mir der Daumen wehtut", versucht es der Angeklagte. "Als Arzt würde ich mir das schon anschauen, wenn jemand mit massiven Gesichtsverletzungen kommt", kontert der Beisitzer. – "Ich habe gesagt, ich bin gestürzt."

Seltsame Geldtransaktion

Es folgt der Auftritt des Verletzten, dem es mittlerweile wieder deutlich besser geht. "Ich bin nach einem harten Arbeitstag mit einem Freund in das Café gegangen", erinnert sich der kleine, aber athletische Teenager. Warum sein Freund dem Trio Geld gab, kann auch er nicht schlüssig erklären, jedenfalls habe I. gar nichts gezahlt, sondern sei aggressiv gewesen und habe ihn aufgefordert, mit hinaus zu kommen.

An der Ecke habe der Gegner ihn sofort mit einem Messer am Kopf geschnitten, er habe mit den Händen Abwehrbewegungen gemacht. An mehr könne er sich nicht erinnern, er sei erst auf der Intensivstation wieder zu sich gekommen, beteuert er.

"Boxen Sie eigentlich?", stellt Matschnig dem Verletzten unvermittelt eine überraschende Frage. Der Zeuge verneint, er sei nur ein Hobbysportler, gehe ins Fitnesscenter und laufe, aber er sei kein Boxer. Aber er spiele Klavier, ergänzt er noch.

Mixed-Martial-Arts-Kämpfer

Der Grund für Matschnigs Interesse wird klar, als das Fragerecht zu Verteidiger Baum kommt. Der legt nämlich ein Konvolut an Zeitungsausschnitten vor – auf denen der Zeuge als "Mixed Martial Arts"(MMA)-Kämpfer zu sehen ist, eine Kontaktsportart, bei der fast alles erlaubt ist, um den Gegner zur Aufgabe zu zwingen.

Auch Screenshots von Facebook-Seiten sind dabei, auf denen der Zeuge die Bewunderung für seinen Onkel formuliert: Der war MMA-Profi und vor einigen Jahren selbst Opfer einer Messerattacke.

"Ich habe ja gewusst, dass die Artikel kommen, und habe Ihnen eine faire Chance gegeben!", zürnt Matschnig daraufhin. Der Zeuge versucht abzuwiegeln. "Es gibt eine Boxerlizenz, die habe ich nicht. Das ist nur Sparring. Ich habe Sie falsch verstanden ...", entschuldigt sich der 16-Jährige. Beisitzer Potmesil verrät daraufhin seine sportlichen Vorlieben: "Da gibt es nichts falsch zu verstehen. Wenn mich wer fragt, ob ich Fußball spiele, werde ich 'Ja' sagen. Wenn ich gefragt werde, ob ich Profifußballer bin: leider 'Nein'."

Sachverständiger stützt Angeklagten

Da die Begleiter der beiden als Zeugen jeweils die eigene Seite stützen und der Kellnerin keine besondere Aggressivität von irgendeiner Seite aufgefallen ist, kommt dem medizinischen Sachverständigen Wolfgang Denk eine wichtige Rolle zu. Sein Resümee: Das Verletzungsbild passt eher zur Version des Angeklagten als zu der des Opfers. Denk möchte auch nicht ganz ausschließen, dass auf einer Unfallambulanz beispielsweise Beulen unter den Haaren oder blaue Flecken im Brustbereich übersehen werden, wenn man die Ärzte nicht darauf hinweist.

Selbst die Staatsanwältin gibt in ihrem Schlussplädoyer zu, dass ihr die Aussagen des Angeklagten und seiner beiden Freunde glaubwürdiger erschienen seien als jene des Verletzten und seines Begleiters. Privatbeteiligtenvertreter Rast, der für seinen Mandanten 5.000 Euro Schmerzensgeld will, sieht das naturgemäß anders. "Ja, die Aussage war suboptimal", gesteht er ein, "aber: Gerade wenn es ein Profiboxer ist, müsste I. doch massive Verletzungen haben. Ich glaube einfach nicht, dass er in Notwehr gehandelt hat!"

Verteidiger Baum vermutet dagegen eine gezielte Provokation, der I. zum Opfer gefallen sei. "Der Zeuge ist niemand, der uns Chopin vorspielt im Café Monte! Auch wenn er sagt, dass er Klavierspieler ist – vielleicht war es auf eine Rauferei angelegt."

Die Geschworenen kommen schließlich zum Urteil, dass kein Mordversuch vorliegt, sondern I. in Notwehr gehandelt hat, und sprechen ihn zur tränenreichen Freude seiner Familie rechtskräftig frei. (Michael Möseneder, 15.3.2018)