Benjamin von Stuckrad-Barre (43) ist Popliterat, Journalist und liebenswertes Großmaul.

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Benjamin von Stuckrad-Barre, "Ich glaub, mir geht's nicht so gut, ich muss mich mal irgendwo hinlegen". € 20,60 / 320 Seiten. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018

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In seinem 2016 erschienenen und grandiosen Buch Panikherz hat Benjamin von Stuckrad-Barre ganz auf sich selbst geschaut. 1975 als viertes Kind eines ökofanatischen Pastorenpaares in Bremen geboren, schämt Stuckrad-Barre sich damals für die Andersartigkeit, die das mit sich bringt. Udo Lindenberg wird zum rebellischen Helden dieser frühen Jahre. Mit 18 heuert der Bursche bei der Musikredaktion der lokalen Zeitung an. Frappierendes Merkmal: Der junge Wilde hat Lust daran, den Großen ans Bein zu pinkeln.

Jetzt geht's also los. Stuckrad-Barre provoziert sich als Kritiker hoch, wechselt als Autor zum Rolling Stone und zu anderen großen deutschen Blättern und als Gagschreiber irgendwann zur Harald Schmidt Show. Es ist eine goldene Zeit am Printmarkt noch vor dem Internet. Literarisch berühmt macht ihn 1998 zudem sein Romandebüt Soloalbum. Er wird zu einem der deutschen Popliteraten der Jahrtausendwende. Alles wird immer mehr, schneller, geiler.

Panikherz ist aber nicht nur ein 576-seitiger Abriss über diese steile Karriere, sondern auch über die Reaktion darauf: Angst, Magersucht, Drogen. Stuckrad-Barre schildert all das fiebrig, zitternd, ganz nah dran, hart, eindringlich. Das Leben im Rausch hat er mittlerweile hinter sich gelassen, gerettet von seiner Familie. Auch das kann man in Panikherz lesen und in Nüchtern (ebenfalls 2016).

Genug vom Offenbaren?

Es mag dem 43-Jährigen dieses Offenbaren nun zu viel geworden sein. Jedenfalls schaut er in der eben erschienenen Textsammlung mit dem selbstbewusst zu langen Titel Ich glaub, mir geht's nicht so gut, ich muss mich mal irgendwo hinlegen wieder auf andere. Etwa auf Jörg Fauser, dessen Bücher er für ihr halbstarkes, turbulentes Lebensgefühl verehrt. Es ist Stuckrad-Barres dritte Compilation dieser Art nach 1999 und 2004, also hat sich längst wieder genug Material angesammelt. Der Untertitel zählt Remix 3.

Andere anschauen, das kann der Beobachtungskünstler Stuckrad-Barre ebenso gut, wie der Selbstdarstellungskünstler Stuckrad-Barre sich herzeigen kann. Aber natürlich sieht er die Welt durch seine ganz spezielle Brille.

Wenn er mit Boris Becker und dessen Familie in deren Wohnzimmer das legendäre Wimbledon-Finalspiel anschaut, das Becker 1985 als jüngster Spieler jemals gewonnen hat, konterkariert Stuckrad-Barre den Nationalmythos damit, wie wenig dessen Ehefrau Lilly sich dafür interessiert. Er sei eine "Projektionsfläche" für die Träume seiner Fans gewesen. Und vielleicht war er zu jung für den Sieg, die viele Aufmerksamkeit, so Becker, der Erfolg hätten ihm manchmal Angst gemacht.

Tauben und Touristen

Ferdinand von Schirach wiederum trifft Stuckrad-Barre in Venedig, das beide verabscheuen: dreckiges Wasser, zu viele Tauben und Touristen. Aber taugt die Stadt nicht als Metapher für einen Staat? Die Pfähle im Wasser als Gesetze tragen zusammen eine Zivilisation ... In dem großen Gefüge interessieren den Strafverteidiger und Bestsellerautor aber die kleinen Ereignisse. Er sucht in seinen beiden Tätigkeiten den Punkt, an dem eine Biografie strauchelt.

Ich glaub, mir geht's ... umfasst ihrer Entstehung als Reportagen und Artikel geschuldet 25 je meist etwa zehn Seiten kurze Texte. Darunter das Minutenprotokoll eines Madonna-Konzerts in Los Angeles, eine Erinnerung an die Fußball-WM 2010, Beobachtungen zur Berlinale und zur Schweinegrippe oder zu seinem Verleger bei Kiepenheuer & Witsch. Die Konferenz dreier Feuilletonisten, wie mit Thomas Bernhards 80. Geburtstag umzugehen sei, ist prachtvoll in ihrer Bissigkeit. Dazwischen wartet eine wunderschön leichte, berauschte Liebesgeschichte mit dem Titel Tattoos.

Überhaupt alles ist frech und klug und schillernd. Es scheißt sich nichts. So wie Stuckrad-Barre 2010 bei einem Treffen mit dem Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck, der für Das Leben der Anderen 2007 einen Oscar einheimste und daraufhin mit Angelina Jolie und Johnny Depp um viele Millionen The Tourist drehen durfte. Dass ihm Film und Regisseur nicht sympathisch sind, lässt Stuckrad-Barre merken und seziert beide bis aufs Blut. Hochvergnüglich verlief dagegen 2007 die gemeinsame Arbeit mit Helmut Dietl (Monaco Franze) am Drehbuch zum erst fünf Jahre später in den Kinos angelaufenen Film Zettl. Das Verweigern einer Handlung und gar alles Erwartbaren erleichterte das Schaffen nicht.

Nicht in Trübsinn versunken

Berührend sind die Treffen mit dem Autor Walter Kempowski kurz vor dessen Krebstod 2007. Er ist bereits ein Pflegefall und sich des Kommenden bewusst, doch trotzdem nicht in Trübsinn versunken. Sympathisch und trotzdem launig kann er sich herrlich aufregen, wo Anlass besteht: "FRAUEN MIT GOLDSCHMUCK, die es tatsächlich wagten, ihm ein billiges Taschenbuch zum Signieren vorzulegen, er verstehe wirklich nicht, was das für Menschen sind."

Das alles sind meist Momentaufnahmen, die heute schon von gestern sind. Doch weil Stuckrad-Barre "nicht buchhalterisch" vorgeht, "sondern literarisch", weil er mäandert, spielt und versucht, hinter die Oberfläche zu kommen, halten sie heute noch. Der Autor, der früher immer mehr vom Leben wollte und von manchem zu viel bekam, hat das gleichnamige Hörbuch übrigens selbst eingelesen. (Michael Wurmitzer, Album, 17.3.2018)