Jörg Magenau, "Bestseller. Bücher, die wir liebten – und was sie über uns verraten". € 22,70 / 289 Seiten. Hoffmann und Campe, Hamburg 2018

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Wie kann es sein, dass die 24 Jahre alte Medizinstudentin Giulia Enders von ihrem Büchlein Darm mit Charme (2014), das so tiefschürfende Fragen wie "Wie geht kacken?" oder "Wie sitze ich richtig auf dem Klo?" eindeutigen Antworten zuführt, 2,2 Millionen Exemplare in 40 Ländern verkauft?

Oder wie konnte es kommen, dass Erich von Dänikens Erinnerungen an die Zukunft 1968 wie ein Meteorit in den Buchmarkt einschlugen und zum größten deutschsprachigen Bucherfolg seit Remarques Im Westen nichts Neues wurden?

EvD, wie ihn seine Fans nennen, vertritt in dem Buch unter anderem die These, die Götter der Frühkulturen seien nichts anderes als extraterrestrische Raumfahrer gewesen – und die Bundeslade in Wirklichkeit eine Gegensprechanlage, mit der Moses in ständiger Verbindung mit den Raumschiffen stand. Seither hat "Götter-Erich" unter der Devise "Die einen kennen mich, die anderen können mich" weltweit 65 Millionen Bücher verkauft.

Liebe und Hiebe: Magenau setzt sich in "Bestseller" auch mit der Gestaltung von Buchumschlägen und E. L. James' "Shades of Grey"-Trilogie auseinander.
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Was zum Teufel macht weiters Hirschhausens Kolumnenband Die Leber wächst mit ihren Aufgaben (2016) so erfolgreich, was Patrick Süskinds Roman Das Parfum (1985), was Hildegard Knefs Lebenserinnerungen Der geschenkte Gaul (1970) und was die Naturbücher des Baumflüsterers Peter Wohlleben?

Was Bücher über uns verraten

Es sind Fragen wie diese, um die sich in Jörg Magenaus Buch Bestseller vieles, aber bei weitem nicht alles dreht, wie der Untertitel "Bücher, die wir liebten – und was sie über uns verraten" andeutet. Der 1961 geborene Germanist und Literaturkritiker, der umfangreiche Biografien über Martin Walser, Christa Wolf und Ernst und Friedrich Georg Jünger geschrieben hat, legt den Fokus seiner essayistischen Untersuchung mit wenigen Ausnahmen auf den deutschen Nachkriegsbuchmarkt und Bücher, die hohe Auflagen, große öffentliche Aufmerksamkeit und vor allem eine nachhaltige Wirkungsgeschichte generierten.

Millionenseller, die keine Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterließen, lässt Magenau außen vor. Denn: "Viele der großen Erfolge waren dann halt doch bloß gute Unterhaltung und nicht weiter der Rede wert." Dass Bestseller das Segment des Buchmarktes sind, in dem der Warencharakter des einstigen Kulturgutes Buch am spürbarsten wird, und dass in den Verwertungszusammenhängen der Ökonomie Quantität mittlerweile zu einem Qualitätsmerkmal geworden ist, thematisiert Magenau an mehreren Stellen seines Bandes. Ohne allerdings in den anschwellenden Bocksgesang des Kulturpessimismus zu verfallen.

Merkwürdige Verschiebung

Lieber sieht er den Bestseller als "das Resultat einer merkwürdigen Verschiebung. In ihm verschmilzt der einsame Vorgang des Lesens zu einem massenhaften Ereignis. Ja mehr noch: Im Bestseller erkennt sich jeder von uns als Teil einer Gemeinschaft von Lesenden wieder und sieht, dass er eben doch nicht alleine ist."

Das ist eine These, über die sich streiten ließe, zumal es sich bei Bestsellern zuweilen mehr um Kauf- denn um Lesephänomene handelt, denn in wessen Buchregal rotten nicht ein paar jener Bestseller vor sich hin, die man unbedingt lesen wollte. Immerhin aber geht der Autor, der weder die berüchtigte Trennung von E- und U-Literatur anerkennen noch zwischen Sachbuch und Belletristik unterscheiden will, weitgehend unideologisch vor und folgt strikt seinen Vorlieben – sowie seiner Begeisterung.

Es interessiert ihn daher auch weniger, ob Bestseller "gemacht" werden können, vielmehr untersucht er, was sie ausmacht. 110 ab Kriegsende bis in die jüngste Gegenwart erschienene Titel hat er dazu kurz unter die Lupe genommen, etwa Theodor Pliviers mit dokumentarischer Drastik erzählten Roman Stalingard, der 1945, kurz nach Kriegsende, als noch kein Platz für Heldengeschichten vom Ostfeldzug war, mehr als eine halbe Million Mal verkauft wurde.

Götter statt Gegenwart

1949 wurde mit C. W. Cerams Götter, Gräber und Gelehrte ein "Roman der Archäologie" publiziert, der sich mit in alten Zeiten Verschüttetem, nicht aber mit der Gegenwart befasste und sich als Longseller erweisen sollte. Bis zur Jahrtausendwende verkaufte sich das Buch über das alte Ägypten, Pyramiden und Pharaonengräber, Pompeji und den Trojanischen Krieg in 33 Sprachen über fünf Millionen Mal.

Der zweitgrößte Erfolg auf dem Sachbuchmarkt in den 1950er-Jahren waren übrigens die Memoiren des Chirurgen Ferdinand Sauerbruch, der sich gegenüber den Nazis nicht unopportunistisch verhalten hatte. Ein langer Rechtsstreit über die Authentizität – Sauerbruch litt an Demenz – der unter dem Titel Das war mein Leben erschienenen Lebensgeschichte schadete dem Absatz nicht. Erfolgreich waren auch Albert Speers Erinnerungen 1969, allerdings verfügte Hitlers ehemaliger Architekt und Rüstungsorganisator über Gedächtnislücken anderer Art. Insgesamt beschleicht einen bei der Lektüre von Magenaus Buch das Gefühl, dass Hitler auf dem Buchmarkt immer geht, nicht nur in Sachbüchern von Joachim Fest und anderen, sondern auch in der Belletristik, siehe etwa Timur Vermes skurrilen Führer-Roman Er ist wieder da (2012).

Böse Mädchen

In 19 thematisch gegliederten Kapiteln (zum Beispiel "Der erste Satz" oder "Böse Mädchen") schlägt Magenau den Bogen von Kishon zu Wallraff, von Tolkien zu Umberto Eco und von Christiane F. zu Hape Kerkeling. Immer wieder lässt er ausgehend von Siegfried Kracauer, der in den 1920er-Jahren den Bestseller als Kompensationsmechanismus im Gefolge gesellschaftlicher Strukturänderung sah, Erkenntnisse der modernen Bestsellerforschung einfließen, die Bestseller wahlweise als "kulturelle Barometer unserer Zeit" (Sonja Marjasch) definieren oder als "natürliches Phänomen des kapitalistischen Marktes in einer hochindustriellen Massengesellschaft" (Werner Faulstich).

Auch auf den sogenannten Bestsellercode, den der Englischprofessor Jockers und die Lektorin Archer 2016 geknackt zu haben glaubten, geht er kurz ein. Das Autorenduo hat 5000 Romane aus 30 Jahren untersucht und ein Computerprogramm entwickelt, das Bestseller angeblich mit einer Trefferwahrscheinlichkeit von 80 Prozent erkennt.

Wichtige Punkte für einen Bestseller, so die beiden, seien der Verzicht auf komplexe Strukturen, keine formalen oder inhaltlichen Experimente, sowie "menschliche Nähe". Sex sei dabei eher kontraproduktiv, er spiele doppelt so häufig in Büchern eine Rolle, die keine Bestseller seien.

"Emotionaler Klebestoff"

Wirklich? Und Shades of Grey? Natürlich geht Magenau auch auf E. L. James' allein im deutschsprachigen Raum 5,7 Millionen Mal verkaufte, 2012 erschienene Romantrilogie ein, in der Peitschen-Christian mit Anastasia, die es faustdick hinter den Ohren hat, zugange ist. Magenau zitiert dazu interessante Gedanken von Eva Illouz über Rollenprofile, Gleichheit und "emotionalen Klebestoff". Charlotte Roches Feuchtgebiete (2008) hingegen streift der Autor nur am Rand. Gut so!

Geschrieben ist Magenaus Untersuchung leider in der etwas zu komplizenhaften Wir-Form, die den Leser zum Mitleser machen soll. Der Kunstgriff, dass Magenau oft "wir" schreibt, wenn er sich meint, verleiht dem Buch zuweilen etwas Didaktisches und Pastorenhaftes. Was nichts daran ändert, dass Bestseller ein äußerst lesenswertes, belebendes und informatives Buch ist. Dies nicht zuletzt, weil Magenau nicht nur die eigene Lesebiografie offenlegt, sondern auch über Bestseller schreibt, von denen man noch nie im Leben gehört hat, geschweige denn sie lesen würde.

Tempel der Literatur

Stark ist Bestseller dort, wo es Magenau gelingt, den Erfolg mancher Millionenseller mit einem bestimmten historischen Zeitpunkt, einem gesellschaftlichen Klima, verbreiteten Hoffnungen, Ängsten und Sehnsüchten kurzzuschließen. Das gelingt ihm an den Beispielen des Baumflüsterers Peter Wohlleben (u. a. Das geheime Leben der Bäume, 2015), bei Dale Carnegies Lebenshilfefibel Sorge dich nicht – lebe! (1948) und anderen kurz nach dem Krieg erschienenen Büchern ganz vorzüglich.

Und was bleibt am Ende? In Schopenhauers Aphorismen zur Lebensweisheit gibt es eine schöne Passage, in der diesbezüglich d'Alembert zitiert wird. Der französische Aufklärer hielt den "Tempel des literarischen Ruhmes" für einen Ort, der "von lauter Toten bewohnt" sei, die "während ihres Lebens nicht darin waren, und von einigen Lebenden, welche fast alle, wenn sie sterben, hinausgeworfen werden".

Es besteht also Hoffnung! Und zuweilen sind die Wege der Literatur unergründlich. 1958 zum Beispiel wurde ein 1922 geschriebener Roman eines damals mehr als fünf Jahrzehnte toten Autors plötzlich zum Bestseller – Franz Kafkas Das Schloss. Getröstet hätte dies den Prager Autor kaum. (Stefan Gmünder, Album, 17.3.2018)