In der Siedlung Oberlisse gibt es keine Querstraßen.

Grafik: der standard

Die Gassen sind schmal und ruhig.

Foto: redl

Hin und wieder biegt ein Auto in eine Garage ein. Hier sind höchstens 30 km/h erlaubt.

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Von einem kahlen Obstbaum krächzt eine Krähe, irgendwo bellt ein Hund, aus der Ferne hört man Verkehr rauschen. Gelegentlich biegt ein Auto in die schmalen Gassen, die Schubert-, Beethoven- oder Haydnweg heißen. Es fährt mit den höchstens erlaubten 30 km/h und verschwindet in einer Garage oder hinter einem Gartentor. Zu Fuß ist kaum jemand unterwegs.

32 Straßen liegen parallel zueinander in der Siedlung Oberlisse in Gerasdorf, direkt an der Landesgrenze zwischen Wien und Niederösterreich. Die längste davon ist 900 Meter lang. Die Besonderheit in der Oberlisse: Es gibt keine einzige Querverbindung. Wer also in der Mitte des Schubertwegs wohnt und seinen Nachbarn in der Mitte des Beethovenwegs besuchen möchte, muss raus auf die Stammersdorfer Straße oder den Grenzweg und kann dann in den Beethovenweg abbiegen.

Harald Frey vom Forschungsbereich für Verkehrsplanung an der TU Wien beschäftigt sich mit den Wechselwirkungen von Siedlungsplanung und Verkehrssystemen. Für ihn ist die Oberlisse ein typisches Beispiel dafür, wie Siedlungen nicht angelegt werden sollten. "Als Autofahrer kann man weit fahren und braucht nicht alle 80 Meter eine Straße, bei Fußgängern ist das anders. Sie erwarten sich Querverbindungen", sagt Frey. Das erkenne man auch daran, dass in historischen Altstädten größere Plätze meist in Abständen von etwa 200 Metern errichtet wurden. "Das sind Strecken, die man zu Fuß gut zurücklegen kann." Strukturen beeinflussen das Verhalten, sagt Frey. "Wie wir bauen, einkaufen und arbeiten, bestimmen unsere Mobilität und das Verkehrsaufkommen." Siedlungen wie die Oberlisse sorgen dafür, dass die Menschen "am fossilen Tropf hängen", sie dazu genötigt werden, mit dem Auto zu fahren.

Enormer Energieverbrauch

Viele dieser Strukturen haben sich in der Vergangenheit etabliert. "Dadurch wurden Abhängigkeiten geschaffen, die wir mit einem enormen Energieverbrauch bezahlen und gegen die man nicht mehr viel tun kann", sagt Frey.

So ist es auch in der Oberlisse. Die Siedlung ist in den 1930er-Jahren entstanden, als die Wiener Stadtbevölkerung in Armut gelebt hat und an den Stadtrand gezogen ist, um Erdäpfel anzubauen, heißt es vom Siedlerverein Oberlisse. Lange Zeit gab es nur Gehwege. Aufgrund eines sogenannten Viehtriebsrechts durften die Bewohner damals über alle Grundstücke gehen, weiß man beim Bauamt Gerasdorf. Erst in den 1960er-Jahren wurden die Straßen asphaltiert. Damals waren die Grundstücke schon in Privatbesitz, es sei nicht mehr möglich gewesen, Querstraßen zu bauen, so das Bauamt. Heute ist es freilich nicht mehr erlaubt, einfach so über die Grundstücke der Nachbarn zu gehen.

Schlechte Verbindung

Dass die Fußwege länger sind, scheint die Bewohner allerdings nicht zu stören. "Wir haben eh alle ein Auto", sagt ein älterer Herr, der gerade mit seiner Frau vom wöchentlichen Pensionistenstammtisch im Vereinshaus kommt. Einen Kritikpunkt hat er aber doch: "Gerasdorf nennt sich Stadt, aber die öffentliche Verbindung ist schlecht." Auf jeder Seite der Oberlisse gibt es einen Bus – einer fährt nach Wien, der andere nach Niederösterreich. "Die Busse sind schon oft leer", sagt Sonja Brenner, die in der Oberlisse ein Bastelgeschäft betreibt. Viele ihrer Kunden kommen mit dem Auto, manche aber auch zu Fuß.

Generell tue man sich ohne Auto aber schwer. Etwa zum Einkaufen müsse man schon mit dem Auto fahren. "Viele Leute, die hier wohnen, arbeiten in Wien. Die meisten fahren mit dem Auto nach Leopoldau und steigen dort in die U-Bahn um", erzählt Brenner. Dass die Oberlisse eine besonders beliebte Wohngegend ist, habe auch mit der Nähe zur U1 zu tun, weiß Maklerin Gabi Kamper von Uni Real. "Die Siedlung ist ruhig und ländlich, trotzdem ist es nicht weit nach Wien. Zu Fuß gehen, das wollen die Leute dort gar nicht", sagt sie.

Ein paar tun es aber doch. Eine Frau kommt mit ihrer Tochter gerade aus der Bücherei. Sie gehe oft zu Fuß, sagt sie. Dass es keine Querverbindungen gibt, mache die Siedlung ruhiger, und die Kinder könnten so auf der Straße spielen. Eine ältere Frau, die mit Rollator spazieren geht, sieht es ganz pragmatisch: "Praktisch wären Querstraßen schon. Unsere Fußwege sind länger, dafür haben wir mehr Bewegung."

"Mitten im Nirgendwo"

Nur 16 Kilometer östlich der Oberlisse liegt ein Gebiet, das ebenfalls mit "Altlasten" aus den 1960er-Jahren zu kämpfen hat, die es fast unmöglich machen, auf ein Auto zu verzichten. Dort, wo früher der Safaripark Gänserndorf war, liegt Gänserndorf-Süd. In verstreuten Siedlungen, die immer wieder von Äckern unterbrochen werden, leben "mitten im Feld, im Nirgendwo", wie Frey sagt, insgesamt 4500 Menschen.

Die Besiedelung von Gänserndorf-Süd hat nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen. Damals war die Gegend beliebt bei Wienern, die dort in Wochenendhäusern einen Zweitwohnsitz hatten. "Die Leute haben die Ruhe gesucht, waren gar nicht bedacht darauf, kurze Wege ins Zentrum von Gänserndorf zu haben. Es wäre damals natürlich besser gewesen, am Stadtrand anzubauen, als auf der freien Wiese", sagt Karl Kamellor, Abteilungsleiter des Bauamts Gänserndorf. "Die Raumplanung orientiert sich viel zu oft am Einzelobjekt und hat dabei meist nicht das System im Hinterkopf", so Frey.

Aktuell wird in Gänserndorf-Süd kein neues Bauland gewidmet, versichert das Bauamt. Die bestehenden Widmungen stammen aus den 1960er- und 1970er-Jahren, damals sollte damit Wachstum herbeigeführt werden. Das ist auch gelungen. Im Jahr 2011 war Gänserndorf eine der am stärksten wachsenden Gemeinden mit einem Zuwachs von mehr als 30 Prozent. Das ist bis heute so. In den letzten drei Jahren wurden acht neue Kindergartengruppen errichtet. Jetzt setzt man eher auf moderates Wachstum. "Mit der Errichtung der Infrastruktur waren und sind wir oft nachgehinkt. Deshalb wollen wir damit jetzt erst mal nachziehen", so Kamellor.

Ein zweites Zentrum

Dazu gehört für die Gemeinde, auch in Gänserndorf-Süd eine Zentrumszone zu entwickeln. "Sie ist an einer Stelle entstanden, an der schon eine verdichtete Bebauung in kleinerem Ausmaß vorhanden war", so Kamellor. Dort gibt es bereits zwei Kindergärten, kürzlich wurde ein Nahversorger errichtet. Weitere Ansiedlungen von Betrieben sind geplant. Derzeit wird eine Volksschule errichtet, die im September in Betrieb gehen soll. "Abgesehen davon sind wir in der Bebauung durch Siedlungsgrenzen des überregionalen Raumordnungskonzepts sehr eingeschränkt, weil es leider in Gänserndorf-Süd noch viele Baulandreserven gibt, die ungenutzt sind. Die Besitzer wollen die Grundstücke nicht verkaufen", sagt Kamellor. Die bestehenden Siedlungen zu einer durchgehenden Einheit zu verbinden, sei daher eine sehr langfristige Angelegenheit.

Von Gänserndorf-Süd nach Gänserndorf gibt es Schülerbusse und ein Anrufsammeltaxi, das untertags im Halbstundentakt fährt. Frey weiß, dass Gemeinden oft den Verkehr zwischen Orten beachten, die Mikromobilität innerhalb aber vergessen. Abgesehen von besserer Raumplanung ist immer noch der Ausbau des öffentlichen Verkehrs das beste Mittel, den Autoverkehr einzudämmen.

Das könnte auch soziale Vorteile haben, so der Experte. Denn schon Untersuchungen in den 1980er-Jahren hätten gezeigt, dass sich ab 2000 Fahrzeugen die Zahl der Freundschaften zwischen den Bewohnern um ein Drittel reduziert. (Bernadette Redl, 18.3.2018)