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Neandertaler wurden in der Vergangenheit gerne als tumbe Rabauken dargestellt. Tatsächlich aber dürften sie sich um ihre Kranken und Verletzten intensiv gekümmert haben.

Foto: AP/Martin Meissner

York – Entgegen zahlreicher jüngster Erkenntnisse werden Neandertaler nach wie vor als grobschlächtige und tumbe Gesellen wahrgenommen. In Wahrheit aber dürfte Homo neanderthalensis dem modernen Menschen nicht nur in intellektueller Hinsicht zumindest ebenbürtig gewesen sein.

Bereits frühere Funde ließen darauf schließen, dass sich Neandertaler um ihre verletzten Artgenossen gekümmert haben. Nun aber zeigen aktuelle Untersuchungen eines Teams um die Archäologin Penny Spikins von der University of York, dass die Fürsorge unserer Verwandten noch viel weiter ging: Es scheint, als haben sie ihre kranken oder verletzten Mitmenschen auch dann versorgt, wenn offensichtlich keine Aussicht auf Besserung bestand.

Fürsorge für Leidende

"Unsere Untersuchungen ergaben, dass es für Neandertaler keine Rolle spielte, ob sie für ihre Bemühungen eine Gegenleistung erhalten. Sie reagierten möglicherweise in dieser Hinsicht rein gefühlsmäßig auf das Leiden ihrer Angehörigen", sagt Spikins. Die Forscher gründen ihre Annahme auf zahlreiche Knochenfunde, die auf teilweise schwere Verletzungen hindeuten. Viele davon waren zum Zeitpunkt des Todes weitgehend verheilt, was von den Forschern als Anzeichen dafür gewertet wird, dass die betroffenen Individuen gepflegt worden waren.

Als wichtigsten Beleg dafür führen die Paläontologen im Fachjournal "World Archaeology" ein als La Chapelle aux Saints 1 (LCS1) bekanntes vor rund 50.000 Jahren gestorbenes Individuum aus Südwest-Frankreich an, das unter einer ganzen Reihe von gesundheitlichen Problem gelitten haben dürfte, darunter eine degenerative Krankheit des Rückgrats.

Zahnverlust, Arthrose, Knochenmarksentzündung

"Die Analyse von LCS1, einem Mann, der im Alter von 25 bis 40 Jahren gestorben ist, ergab einen weitgehenden Verlust der Zähne aufgrund von Parodontose sowie massive Arthrose im Rückenwirbelbereich", berichten die Archäologen. "Außerdem hatte das Individuum gebrochene Rippen und zeigte Symptome einer schweren Osteomyelitis im linken Hüftknochen."

Damit LCS1 länger überleben konnte, was aufgrund der Befunde offensichtlich der Fall war, sei nach Ansicht der Wissenschafter eine intensive Pflege erforderlich gewesen. "Die degenerative Erkrankung im Bereich des Rückgrats, der Schulter und der Hüfte hätte die Person vermutlich von der Jagd ausgeschlossen", sagt Spikins. Sein Zustand hat ihn aller Wahrscheinlichkeit nach in den letzten 12 Monaten seines Lebens ans Krankenlager gefesselt, damit konnte er etwa bei der Jagd nichts beitragen.

Kein unzivilisierter Verwandter

Die Forscher sind davon überzeugt, dass dies kein Einzelfall ist, sondern beim Zusammenleben der Neandertaler Gesundheitsfürsorge generell eine signifikante Rolle gespielt hat. "Wir glauben, dass ein solches fürsorgliches Verhalten bei Homo neanderthalensis bisher unterschätzt worden ist, möglicherweise, weil man ihn gemeinhin als 'unzivilisierter' als den modernen Menschen betrachtet hatte", meint Spikins. "Unsere Untersuchungen lassen dagegen auf ein gänzlich anderes Sozialleben schließen." (tberg, 17.3.2018)