Olivier Faure soll die französischen Sozialisten aus der Krise führen.

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Wenn Mauern reden könnten, würden sie an der Rue de Solférino von glorreichen Szenen berichten. Zum Beispiel vom 10. Mai 1981, als François Mitterrand mit seinem brauen Renault 30 gegen Mitternacht vor dem Sitz des Parti Socialiste (PS) vorfuhr, um seinen Triumph bei der Präsidentenwahl zu feiern. Eine Pioniertat für die französische Linke.

Und eine Erinnerung an bessere Zeiten: Heute steht die Hausnummer 10 der Solférino-Straße um 45 Millionen Euro zum Verkauf. Das sind laut Immobilienanzeige 3.389 Quadratmeter Bürofläche in "außerordentlicher" Lage mitten im Pariser Viertel der Ministerien und Museen. Das Gebäude unterliege keinen "aufschiebenden Bedingungen", erfordere "keine behördlichen Bewilligungen", wirbt die "Rue Solférino", wie die Medien den Parteisitz und darüber hinaus die ganze Partei seit Jahren nennen.

Der unfreiwillige Verkauf der Parteizentrale illustriert den tiefen Fall einer Partei, die 1905 als "französische Sektion der Arbeiterinternationale" (SFIO) begonnen und es unter Mitterrand bis in den Elysée-Palast gebracht hatte. Danach ging es mit der Partei langsam bergab. 2012 wurde der ehemalige Parteisekretär François Hollande zwar noch Staatschef, aber eigentlich verdankte er das nur der Unpopularität seines konservativen Rivalen Nicolas Sarkozy. Bei der Präsidentenwahl 2017 schied der PS-Kandidat Benoît Hamon mit kläglichen 6,4 Prozent schon im ersten Wahlgang aus.

Büros bereits geräumt

Die jahrzehntelang dominierende, vielleicht "französischste" Partei der Fünften Republik wurde schon totgesagt, als viele Ex-Minister in das Mittelager von Präsident Emmanuel Macron überliefen. Sein aktueller Außenminister Jean-Yves Le Drian ist am Wochenende als vorläufig letzter aus dem PS ausgetreten. Ex-Premier Manuel Valls war nach seinem Fahnenwechsel schon vorher "ausgetreten" worden. Hollandes prominente Ex-Ministerinnen wie Najat Vallaud-Belkacem und Axelle Lemaire arbeiten heute in Umfrageinstituten oder Unternehmensberatungen.

Ihre Büros an der Rue Solférino – der Parteisitz hat in drei Monaten noch keinen Käufer gefunden – haben sie längst geräumt. Die beiden Frauen haben es auch dankend abgelehnt, für den Parteivorsitz zu kandidieren. Gewählt wurde diese Woche Olivier Faure, der den ersten Wahlgang für sich entschieden hatte, worauf sein letzter Gegenspieler am Freitag das Handtuch warf. Der Abgeordnete Faure war bisher Sprecher des PS und amtiert heute als Fraktionschef in der Nationalversammlung. Er soll im April von einem Parteitag eingesetzt werden. Einer breiteren Öffentlichkeit ist er kaum bekannt.

Faure verspricht eine "Renaissance" der Partei. Auch wenn sein Programm wenig innovativ ist, hat er eine Chance. Denn in Frankreich wendet sich die Stimmung langsam gegen Präsident Macron, der eine liberale Strukturreform an die andere reiht und damit mehr und mehr Bevölkerungsgruppen gegen sich aufbringt. Am Donnerstag gingen die Pensionisten auf die Straße, nächste Woche wird bei Air France gestreikt, dann vermutlich wochenlang bei der Staatsbahn SNCF.

Widerspruch

Für die Sozialisten öffnet sich damit wieder ein politischer Raum zwischen Macron und den "Unbeugsamen" des deutlich linken Jean-Luc Mélenchon. Viele ehemals sozialistische Wähler würden heute nicht mehr Macron wählen.

Um allerdings wieder zu einer schlagkräftigen politischen Kraft im Land zu werden, müssten die Sozialisten zuerst ihre eigene politische Linie definieren. "Das Drama des PS ist es, dass er den Widerspruch zwischen sozialistischem Oppositionsdiskurs und realpolitischem Regierungskurs nie aufgelöst hat", meint der Politologe Rémi Lefebvre. "Das sorgt für großen Frust bei den Wählern." Den französischen Sozialisten fehle bis heute ein "Bad Godesberg" – das heißt, ein Bekenntnis zu einer modernen Sozialdemokratie, wie es die deutsche SPD schon 1959 vollzogen habe. Und die habe bei der Bundestagswahl 2017 immerhin dreimal so viele Stimmen (20,5 Prozent) erzielt wie der PS, meint Lefebvre. Alles ist eben relativ.

Den französischen Sozialisten fällt der Sprung ins kalte sozialdemokratische Wasser indes bedeutend schwerer. Anders als die SPD war der PS nie eine Arbeiterpartei; er vertritt in erster Linie die fünf Millionen Beamten und Lehrer, dazu auch Gewerbetreibende und Pensionisten. Umso vehementer treten sie für das französische Sozialmodell und einen starken Staat ein – der in Frankreich für mehr als 56 Prozent der Wirtschaftsleistung aufkommt. Macron macht sich gerade daran, dieses Modell abzubauen. Die französischen Sozialisten werden sich nur dann wieder aufrichten, wenn sie diesbezüglich eine glaubwürdige Alternative anzubieten haben. Bislang sind sie noch nicht fündig geworden. (Stefan Brändle, 16.3.2018)