Unheilvolles Paar: Aaron (Christian Taubenheim) und Tamora (Ines Schiller).

Foto: Christian Brachwitz

Linz – Ein kahler Bartträger steht mit entblößter Brust an der Rampe der Linzer Kammerspiele. Eine junge Frau schreibt ihm – Buchstaben der Nemesis – das Wort "Neger" auf den Leib. Von nun wird Aaron (Christian Taubenheim) mit glasklarem Blick durch das spätantike Rom wüten: als Fleisch und Blut gewordene Rache der Dritten an der Ersten Welt; als Sendbote der Geschichte, der in ihrem Auftrag Mord und Brand in das machtversessene Imperium hineinträgt.

Heiner Müller hatte Shakespeares bluttriefendes Jugendwerk Titus Andronicus Anfang der 1980er noch einmal dick mit roter Farbe überschrieben. Anatomie Titus Fall of Rome ist vor allem eines: hohnlachendes Dramenzitat, in dem sich der DDR-Autor mit unbändiger Gier nach Mord und Totschlag – Rache ist Blutwurst! – durch den Menügang dichtet.

Der Feldherr Titus hat 16 Söhne an den Krieg verloren, den 17. sticht er selbst ab. Ein gewisser Saturnin wird Kaiser. Er freit eine sexuell zügellose Gotenkönigin namens Tamora (Ines Schiller), die ihrerseits dem "Neger" Aaron in Wollust zugetan ist. Dies alles kann bloß deswegen ins Werk gesetzt werden, weil Titus (Christian Higer), in Linz eine Art Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand, vor der Annahme der Kaiserkrone per Akklamation zurückgeschreckt ist. Machterwerb zieht mit eiserner Gesetzmäßigkeit Bluttaten nach sich. Schlimmer ist es allerdings, Macht, die einem auf dem Präsentierteller angeboten wird, auszuschlagen.

Philomele lässt grüßen

Titus' Zaudern zieht eine Kettenreaktion nach sich. Des frischgebackenen Kaisers Bruder wird abgestochen. Tamoras Söhne schänden Titus' Tochter, reißen ihr die Zunge aus und schneiden ihr die Hände ab. Ovids Philomele lässt grüßen. Der Vater opfert selbst die rechte Hand, um zwei seiner Söhne, des Mordes beschuldigt, zu retten. Retourniert werden ihm zum Dank nur beider abgeschnittene Köpfe. Und so weiter. Zur Abrundung der Schlachtplatte kommt übrigens auch Kannibalismus ins Spiel.

Regisseur Stephan Suschke war einst Müller-Assistent, ist in die Algebra des Todes also blendend eingelesen. Suschke versammelt Römer und Goten auf einem Spiegelboden (Bühne: Momme Röhrbein). Die wahnwitzig schwierige Exposition des Dramas behandelt er als Familienaufstellung vor knitternder Goldfolie: Jede Figur führt Gründe genug für Mord und Schändung im Angebot.

Den kommentierenden Monologtext, eine Müller'sche Eigenheit, verteilt Suschke auf die Stimmen der Kindergeneration. Und die Linzer Schauspieler finden sich mit Fortdauer des Abends immer famoser zurecht auf dem glitschigen, manchmal auch bloß durchhängenden Tragödienhochseil. Anatomie Titus ist ein Dramenkomplott gegen den wohlfeilen Humanismus in den Wohlstandszonen des – von Müller aus gesehen – Westens.

Grammatik der Gewalt

Der Aufstand der Depravierten aber passiert im Herzen der Metropolen. Und so sieht man Titus' Miene ob der Gräuel immer heftiger entgleisen, während Aarons Schliche eine unerschöpfliche Energie verraten, die besserer Zwecke wert wäre. Suschkes Darsteller bilden ein Beziehungsgeflecht aus Blicken und Gesten, wobei Letztere bereits Kommentare enthalten: Hinzufügungen zur Grammatik der Gewalt, Kürzel des Abscheus.

Größte Hochachtung verdient das Ensemble, voran Lavinia (Theresa Palfi) als stummes Terroropfer und Aaron (Taubenheim) als Agent der Gewalt, der den eigenen Untergang wie ein Hochamt zelebriert. Müllers Allwissenheit, in herrliche Verse gegossen, kann gehörig nerven. Umso mehr Lob gebührt einer Titus-Inszenierung, die dieses Fanal der Barbarei ohne Scheu, aber auch ohne alle Kraftmeierei ins Werk setzt. (Ronald Pohl, 19.3.2018)