Fabiano Caruana am Zug.

Berlin – Alle lachen. Das Publikum lacht, der sonst so ruhige Ding Liren lacht, sogar Moderatorin Anastassija Karlowytsch hat Schwierigkeiten, ein Kichern zu unterdrücken. Als Ulrich Stock, geachteter Schachreporter der Hamburger Wochenzeitung "Zeit", zu mir herüberblickt, können auch wir beide uns nicht mehr beherrschen.

Nur einer bleibt ernst, und der ist am Wort. Nach sechseinhalb Stunden Spielzeit erklärt Wladimir Kramnik allen, die so lange ausgeharrt haben, dass seine Stellung wieder einmal total gewonnen gewesen sei. Einzig durch Kramniks eigenes Unvermögen habe sein chinesischer Gegner noch einmal ins Remis entschlüpfen können.

Das Skurrile daran: Eigentlich waren sämtliche Beobachter davon ausgegangen, dass Kramnik in dieser Partie nach einem missglückten Springerrückzug im Mittelspiel mit dem Rücken zur Wand gestanden war. Mit einem Damenopfer für Turm, Springer und Bauer hatte der Russe sich geschickt entlastet, das ja. Am Ende hatte er am Königsflügel mühelos eine sogenannte Festung errichtet, eine Auffangstellung also, die Ding Liren trotz seines materiellen Vorteils niemals würde durchbrechen können.

Magnus Carlsen war bei der WM 2016 in New York mit der leicht aufschneiderischen Bemerkung in Erinnerung geblieben, er glaube nicht an Festungen, weil er die Erfahrung gemacht habe, dass er sie im Allgemeinen knacken könne. An Kramniks Festung hätte sich wohl nicht einmal ein Carlsen versucht, so solide war sie gebaut.

Kramnik aber reißt die Festung selber ein. Als ein Remisschluss unausweichlich scheint, opfert der Ex-Weltmeister einen Bauern, um auf taktische Chancen zu setzen, die er an seinen frei gewordenen h-Bauern knüpft. Dass er damit auch seine eigene Königsstellung schwächt und seinen nominellen Materialnachteil vergrößert – was kümmert es ihn? Nicht zum ersten Mal in diesem Turnier agiert der Routinier ein wenig so, als sitze er einem Patzer gegenüber, gegen den man auch in etwas schlechterer Stellung noch riskieren kann, ja sogar muss, um Fehler herauszukitzeln und den standesgemäßen Sieg einzufahren.

Ding Liren aber ist kein Patzer. Chinas Nummer eins hat in diesem Turnier noch keine Partie verloren, und er geht auch gegen Kramnik nicht in die Knie. Am Schluss hat der Russe nur noch wenige Minuten auf der Uhr und mit seinem offenen König massenhaft Gelegenheit, in tödliche Schachfolgen und Mattnetze hineinzulaufen. Judit Polgár und Lawrence Trent, die aus dem Studio im obersten Stockwerk des Kreuzberger Kühlhauses den englischsprachigen Expertenkommentar beisteuern, verstehen die Schachwelt nicht mehr: "Warum spielt Kramnik das auf Gewinn?", fragt Trent mehrmals entgeistert.

Am Ende wickelt der Unverstandene gekonnt ins Remis ab, um dann bei der Pressekonferenz seine One-Man-Show abzuliefern: "Vor der Zeitkontrolle war die Stellung so gewonnen für mich, dass ich der Meinung war, es sei fast schon egal, was für Züge ich spiele."

Allgemeine Heiterkeit

"Sind Sie auch dieser Meinung?", wendet sich Moderatorin Karlowytsch beherrscht an Ding Liren. Auch der muss wieder lachen: "Nein, überhaupt nicht."

Ein wenig kann einem der unerschütterliche Wladimir Kramnik ja leidtun. Er war mit einem schönen Sieg ins Turnier gestartet, hatte bald einen zweiten folgen lassen. Danach war Sand ins Getriebe gekommen. Gegen Fabiano Caruana und Shakhriyar Mamedyarov hätte Kramnik nach Belieben Remis machen können. Stattdessen stürzte er sich zweimal mit wenig Bedenkzeit in unüberblickbare Verwicklungen, am Schluss standen zwei Niederlagen zu Buche. Was Kramnik nicht daran hinderte, nach den Partien wortreich zu erklären, dass seine Stellungen eigentlich unverlierbar gewesen seien.

Nach sieben Runden hält er nun bei 50 Prozent Punkteausbeute: zwei Siege, zwei Niederlagen, drei Remis. Ding Liren hat gleich viele Punkte, nur hat er alle Partien remisiert. Kramnik ist sein eigenes Auf und Ab lieber, zumindest behauptet er das: "Schöne Siege und schmerzhafte Niederlagen, das ist Schach, das ist Emotion, das ist das Leben", sagt er. Ding Liren geniert sich nach diesem Statement seines berühmten Gegners fast ein wenig, obwohl er bei seinem ersten Kandidatenturnier zur Halbzeit noch ungeschlagen ist: "Ich habe noch nie so oft hintereinander unentschieden gespielt", sagt der Chinese entschuldigend und wirkt dabei wie ein strebsamer Schüler, der lauter Zweier in seinem Halbjahreszeugnis stehen hat.

Während Wladimir Kramniks übergroßes Selbstvertrauen seinen Blick auf das Schachbrett zu verzerren scheint, hat ein anderer Teilnehmer offenbar jedes Vertrauen in sich selbst verloren. So viel war vor dem Turnier über Lewon Aronjans Reifeprozess zu hören gewesen. Endlich sei er psychisch stabil genug, um auch dem Druck beim Kandidatenturnier standzuhalten. Diesmal werde, diesmal müsse es einfach klappen.

Es klappt aber nicht. "Das dürfte eines der schlechtesten Turniere meines Lebens sein", sagt Aronjan nach seiner Weißniederlage gegen Fabiano Caruana, es ist die zweite Verlustpartie in Folge, bereits seine dritte im Turnier. Der von der Mehrzahl der Experten als Topfavorit gehandelte Armenier liegt mit 2½ aus 7 auf dem geteilten letzten Platz. Wenn kein Wunder passiert, kann er den Traum vom WM-Match gegen Carlsen jetzt schon abschreiben.

Sein Gegner an diesem Tag hat hingegen soeben den zweiten Tunierriesen getötet, und zum zweiten Mal mit den schwarzen Steinen. Der etwas nerdig aussehende, bebrillte Italo-Amerikaner mit der sonoren Stimme wirkt während wie nach den Partien beeindruckend ruhig, spart bei der öffentlichen Analyse aber nicht mit Varianten, die seine Gegner mitunter stumm werden lassen. Schon vor zwei Jahren war Caruana ganz nah dran am Match gegen Carlsen, bevor Sergei Karjakin ihn auf der Zielgeraden abfing. Jetzt führt er zur Halbzeit mit 5 aus 7 und hat momentan nur einen echten Verfolger.

Der heißt Shakhriyar Mamedyarov und spielt in Runde sieben gegen Alexander Grischtschuk die bisher kürzeste Partie des Turniers: Perfekte Vorbereitung des Aseris trägt ihm ein kräfteschonendes Schwarzremis nach nur 16 Zügen ein. Damit liegt er zwar jetzt einen halben Punkt hinter Caruana, aber das Turnier ist noch lang, da müsse man mit der Energie haushalten, erklärt Mamedyarov im Interview.

Verkehrte Welt: Der früher als Langweiler verschriene Turniersenior Wladimir Kramnik reißt sich in jeder Partie ein bis zwei Beine aus, um nicht Remis machen zu müssen. Die "jungen Wilden" dagegen streifen pragmatisch Punkte ein, wo sie ihnen offeriert werden, ohne sich mehr als nötig zu verausgaben.

"Verteidigungsminister" Sergej Karjakin hat wiederum schon zweimal verloren, zur Halbzeit gelingt ihm nun endlich ein Sieg – durch Zeitüberschreitung seines Gegners Wesley So! Beide siedeln im unteren Teil der Tabelle und dürften kaum mehr Chancen auf den Turniersieg haben. Allerdings – wer weiß schon, welche weiteren Überraschungen dieses herausragende Berliner Kandidatenturnier in seiner zweiten Hälfte noch für uns parat hält. (Anatol Vitouch aus Berlin, 19.3.2018)