Julia Dibbern
"Die Tyrannenlüge"

Warum unsere Kinder genau das sind, was die Welt von morgen braucht
176 Seiten / 18,50 Euro
Kösel-Verlag 2018

Foto: Kösel Verlag

"Wenn das Kind nicht 'funktioniert', hat es vielleicht etwas damit zu tun, dass die Umgebung nicht artgerecht ist", sagt Buchautorin Julia Dibbern.

Foto: Nicole Buczior

STANDARD: Viel ist in letzter Zeit von Tyrannenkinder zu lesen und davon, was Eltern angeblich alles falsch machen. Auf diese Generation könne man nicht zählen, das seien monströse Auswüchse liberaler Erziehung, heißt es in Erziehungsratgebern. Was stört Sie an solchen Aussagen?

Dibbern: Das ist eine Denkschule, die nicht mehr zeitgemäß ist. Wir haben global ganz andere Probleme, als uns darauf zu konzentrieren, wie schrecklich die Jugend ist – und sie ist gar nicht schrecklich. Inwiefern können wir denn nicht auf die nachfolgende Generation zählen? Dass sie ihre Zukunft nicht in einem Nine-to-five-Job sieht? Dass sie nicht die Wirtschaft weiter ankurbeln und den Planeten gegen die Wand fahren will? Herbert Renz-Polster hat einmal gesagt, dass eine Generation, die reihenweise vor dem Burnout stehe, ihre Kinder dazu erziehe, immer weiter mitzulaufen. Ist das wirklich das, was glücklich macht?

STANDARD: Die Jugend war schon immer schlecht. Das wusste man bereits vor mehr als 4.000 Jahren. Was bewirkt dieses Lamento heute?

Dibbern: All die Sorgen und Klagen, dass die heutige Art, mit Kindern umzugehen, Tyrannen hervorbringe, verunsichert Eltern. Das treibt nicht nur einen Keil zwischen die Generationen, sondern auch zwischen einzelne Familien.

STANDARD: Sie legen den Fokus auf positive Nachrichten von Kindern und sagen, dass die Kinder von heute genau das sind, was die Welt von morgen braucht. Wie meinen Sie das?

Dibbern: Die Welt braucht heute andere Menschen, als sie sie noch vor 50 Jahren brauchte. Wir brauchen heute kreative Menschen, die angstfrei Lösungen entwickeln können. Wir brauchen keine Jasager, sondern mutige und sozial kompetente Menschen. Wenn Kinder spüren, dass sie ernst genommen, geliebt und gesehen werden, dann sind sie emotional gefestigt. Ihre Bedürfnisse werden erfüllt. Dabei spreche ich nicht davon, dass man Kindern den Wunsch nach dem neuesten iPhone erfüllen muss. Es geht nicht um materielle Bedürfnisse.

STANDARD: Kann es auch zu viel Mitsprache von Kindern in einer Familie geben?

Dibbern: Es ist nicht in jedem Moment nötig, alles auszudiskutieren. Das überfordert viele Kinder. Man muss nicht eine halbe Stunde darüber diskutieren, welchen Pullover ein Kind anziehen soll. Entweder man lässt dem Kind die Freiheit zu entscheiden und lebt dann mit der Konsequenz, oder man entscheidet das selbst. Wenn man aber schwammig bleibt, ist es schwierig. Augenhöhe heißt für mich nicht, dass ich mit allen Menschen in der Familie über alles diskutiere, sondern dass ich das Gegenüber als würdig ansehe. Auf Augenhöhe zu kommunizieren muss nicht bedeuten, dass man immer nett und freundlich ist. Man kann auch sagen: Das ist eine schlechte Idee, ich will das nicht.

STANDARD: Kann es passieren, dass Erwachsene ihre Grenzen schlecht kommunizieren?

Dibbern: Absolut. Irgendwann ist der Punkt erreicht, wo man als Elternteil einfach nicht mehr kann. Das hat auch mit Authentizität zu tun und mit dem Empfinden der eigenen Grenzen. Unsere Generation hat in den meisten Fällen nicht gelernt, die eigenen Grenzen zu wahren. Viele nehmen ihre Grenzen erst wahr, wenn sie überschritten werden. Dann wird man laut und schreit. Oder man versucht es besser zu machen als die eigenen Eltern, ist ganz vorsichtig und traut sich nicht zu kommunizieren, dass man etwas eigentlich nicht will, weil man dem Kind ja nicht wehtun will.

STANDARD: Was raten Sie stattdessen?

Dibbern: Eltern sollten anfangen, ihre eigenen Grenzen wahrzunehmen und diese ganz klar zu kommunizieren. Das Kind wird weder bevormundet noch eingeschränkt, wenn man sagt: Halt, hier ist meine Grenze. Man kann das Kind auch umleiten und sagen: Mir gefällt nicht, dass du die Wand anmalst. Lass uns ein großes Plakat aufhängen, und du kannst da drauf malen. Je klarer man als Elternteil ist und sagt, was man möchte und was nicht, desto eher nehmen Kinder das auch an. Wenn Kinder merken, dass man es wirklich ernst meint, funktioniert es ja.

STANDARD: Sie sind auch Mitbegründerin des Artgerecht-Projekts. Was meinen Sie mit "artgerecht"?

Dibbern: Die Menschen machen sich viele Gedanken über artgerecht gehaltene Hühner. Aber niemand spricht über artgerecht gehaltene Kinder. Zusammen mit meiner Kollegin Nicola Schmidt habe ich das Artgerecht-Projekt gegründet. Es geht darum, Familien zu stärken und ihnen Antworten auf Fragen rund um das Leben mit Kindern zu geben. Wenn das Kind nicht "funktioniert", hat es vielleicht etwas damit zu tun, dass die Umgebung nicht artgerecht ist.

STANDARD: Ein Beispiel, bitte!

Dibbern: Wir sind zum Beispiel nicht zum Stillsitzen gemacht, Kinder schon gar nicht. Wenn man aber mit Kindern in den Wald rausgeht, dann erledigen sich viele Probleme von selbst.

STANDARD: Das Internet nennen Sie einen Spielplatz, dem man aber auch etwas entgegensetzen muss, nämlich Natur. Wie sehen Sie den gegenwärtig herrschenden Alarmismus, was den Umgang Jugendlicher mit digitalen Medien anbelangt?

Dibbern: Dieser Alarmismus nützt wenig. Internet und Smartphones werden davon nicht weggehen. Vielmehr sollten wir darauf vertrauen, dass die neue Generation, die ja damit aufgewachsen ist, einen Umgang finden wird. Früher hat man sich über Comic aufgeregt oder über das Jugendmagazin "Bravo". Die ältere Generation denkt immer, dass Medien ganz furchtbar wären. Es stimmt, dass uns die digitalisierte Welt vor neue Herausforderungen stellt. Man muss dieser Welt gezielt etwas entgegensetzen – und zwar raus in die Natur gehen. Keine Angst vor Zecken, Würmern, Schlammlöchern, sondern die Welt entdecken. (Christine Tragler, 25.3.2018)