"Zu unserer Natur gehört die Bewegung; die vollkommene Ruhe ist der Tod." Dieses Zitat wird Blaise Pascal, einem französischen Philosophen und dem Begründer der Wahrscheinlichkeitsrechnung, zugerechnet. Tatsächlich faszinieren Bewegung und Muskelkraft die Menschheit seit der Antike. Große Philosophen wie Aristoteles (384–322 vor Chr.) befassten sich mit der Bewegung von Tieren. Das Universalgenie Leonardo da Vinci (1452–1519) hat die menschliche Anatomie studiert und sich ein erstaunliches Wissen über Muskel- und Gelenksfunktion angeeignet. René Descartes (1596–1650) schlug vor, dass die Körper aller Lebewesen Maschinen sein. Wenn man daran denkt, dass man ein Hüftgelenk mittlerweile meist problemlos gegen ein künstliches Gelenk tauschen kann, ist dieser Gedanke auch nicht ganz abwegig.

Armmuskeln, gezeichnet von Leonardo da Vinci.
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Meilensteine der Muskelforschung

Richtig spannend wurde es in der Muskelforschung aber gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als neue Mikroskope feine Strukturen des Muskels sichtbar machten, etwa die Querstreifung der Skelett- und Herzmuskeln. Somit konnte die streng hierarchische Struktur des Muskels erforscht werden.

Fadenförmige Proteine, sogenannte Filamente, namens Aktin und Myosin wurden in den Muskelzellen entdeckt und mit der Muskelkontraktion in Zusammenhang gebracht. Archibald V. Hill (1886–1977) studierte die Wärmeentwicklung in einem kontrahierenden Muskel und wurde für seine Arbeit 1922 gemeinsam mit Otto Fritz Meyerhof mit dem Nobelpreis geehrt. Adenosintriphosphat, kurz ATP, wurde als unmittelbare Energiequelle für Muskelkontraktionen erkannt.

Wie entsteht Muskelkraft?

Der große Durchbruch gelang in den 1950er Jahren zwei Briten, die sich, obwohl nicht verwandt, den illustren Nachnamen Huxley teilten und beide enormen Einfluss auf die Wissenschaft im 20. Jahrhundert hatten. Bis 1953 galt die Hypothese, dass sich jene Filamente, die für die Kontraktion verantwortlich sind, falten, dadurch den Muskel verkürzen und Kraft erzeugen. 1953 stellte Hugh Huxley (1924–2013) fest, dass seine Messungen nicht mit dieser Theorie übereinstimmen. Ein Jahr später stellten er und Sir Andrew Huxley (1917–2012), übrigens Halbbruder des Autors Aldous Huxley ("Brave new world") und des Biologen Julian Huxley sowie Enkelsohn des prominenten Biologen Thomas Huxley, in derselben Ausgabe der Zeitschrift "Nature" unabhängig voneinander die sogenannte Gleitfilamenttheorie vor. Diese besagt, dass sich die kontraktilen Filamente Aktin und Myosin nicht falten und damit verkürzen, sondern dass sie sich vielmehr bei konstanter Länge aneinander vorbeischieben.
Man hatte also eine Idee, wieso sich der Muskel verkürzt, nämlich durch das Aneinanderschieben der Filamente, allerdings hatte man noch keine akzeptierte Theorie, wie dieses Ineinandergleiten tatsächlich von statten geht.

Mathematisches Modell

Die bis heute im Kern als gültig akzeptierte Theorie dazu wurde schließlich 1957 von Andrew Huxley publiziert. Bevor er sich der Muskelforschung widmete, betrieb er bereits umfassende Forschungen auf dem Gebiet der Nervenimpulse und hatte gemeinsam mit Alan Hodgkin (1914–1998) ein bis heute benutztes mathematisches Modell veröffentlicht. Für ihre Arbeit wurden sie übrigens 1963 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet. Im Journal "Biophysics and Biophysical Chemistry", einer eher unbedeutenden, heute nicht mehr existierenden Fachzeitschrift, schlug Huxley die sogenannte Querbrückentheorie vor. Grob gesagt besagt diese Theorie, dass sich Köpfchen, die aus dem Myosinfilament ragen, zyklisch an Aktin binden und dadurch für das Ineinandergleiten der Filamente sorgen. Der Zyklus eines Köpfchens ist mit der Hydrolyse eines ATP-Moleküls assoziiert.

Huxley publizierte zu seiner Theorie ein mathematisches Modell. Erstmals war es möglich, Kräfte und Energieverbrauch einer Muskelkontraktion basierend auf der angenommenen Interaktion von Aktin und Myosin hervorzusagen. Diese Vorhersagen ermöglichten, die Theorie mit Hilfe von Experimenten zu testen. Zwar war die Mathematik nicht ganz ausgereift, doch durch Huxleys Intuition erstaunlich korrekt. Jahre später zeigten Mathematiker, dass sich das von Huxley vorgestellte Querbrückenmodell tatsächlich aus einem umfassenden, mathematisch richtig formulierten Modell ableiten lässt.

Huxleys Modell machte möglich, Kräfte und Energieverbrauch einer Muskelkontraktion vorherzusagen.
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Sieg für das Modell

Die einfache Quantifizierung der Theorie und damit der Vergleichbarkeit zwischen Theorie und Experimenten war die Basis für den ungebrochenen Erfolg der Querbrückentheorie. Ebenso zeigte der Vergleich zwischen Theorie und Messungen Verbesserungspotential auf. So konnte etwa das 1957 vorgeschlagene Querbrückenmodell das Verhalten von Muskelfasern bei schnellen Längenveränderungen nicht vorhersagen. 1969 schlug Hugh Huxley vor, dass die Myosinköpfchen wohl eine Art Ruderbewegung vornehmen, wenn sie an Aktin gebunden sind. Allerdings lieferte er nur eine Theorie, kein Modell.

Dieses lieferte drei Jahre später wieder Andrew Huxley (gemeinsam mit dem 1938 geborenen Bob Simmons). In ihrem 1971 erschienen Werk stellten sie ein mathematisches Modell vor, das diesen Ruderschlag beinhaltete. Die Arbeit, diesmal wieder im renommierten "Nature" publiziert, ist ein Standardwerk. Sie ist die Basis sämtlicher Querbrückenmodelle, die bis heute folgen sollten und beschreibt im Wesentlichen, wie wir auch heute noch über Muskelkontraktion denken.
Übrigens gelang es erst über 20 Jahre später, 1993, einer Gruppe um Ivan Rayment, die atomaren Strukturen von Aktin und Myosin sichtbar zu machen. Die gefundenen Änderungen in der Konformation der Myosinköpfchen während der Muskelkontraktion deuten stark darauf hin, dass die Ruderschlagtheorie korrekt sein könnte.

Ein klarer Sieg für das mathematische Modell.

Aktuelle Forschung

Auch heute gibt es eine hoch aktive, starke Forschungsgemeinschaft, die sich mit den grundlegenden Eigenschaften der Muskelkontraktion beschäftigt. So lernte man immer mehr über die Funktion eines dritten Filaments, des riesigen Proteins Titin. Mittlerweile werden unterschiedliche Titinisoformen mit Herzmyopathien oder Zerebralparese in Zusammenhang gebracht.

Kürzlich wurde ein kraftabhängiger Aktivierungsmechanismus der Myosinköpfchen gefunden und modelliert. Das mathematische Modell zeigt, dass der Aktivierungsmechanismus fundamentale physiologische Prinzipien, wie etwa den Frank-Starling-Mechanismus (größeres diastolisches Volumen führt zu höherem Schlagvolumen des Herzens), erklären kann. Die Querbrückenmodelle selbst werden immer feiner und können mittlerweile kooperative Effekte der Köpfchen oder die Dehnbarkeit der Filamente mit einbeziehen.

Durch die mittlerweile großen Rechnerleistungen sind auch in der Muskelforschung neue Spielplätze für angewandte Mathematiker und theoretische Physiologen entstanden. So sind zum Beispiel patientenspezifische Herzmodelle und damit personalisierte medizinische Versorgung in absehbarer Zukunft vorstellbar.

Der mathematische Muskel wird die Forschungsgemeinschaft also noch längere Zeit faszinieren. (Gudrun Schappacher-Tilp, 29.3.2018)