Moskau – Ein russischer Chemiker, der selbst an der Entwicklung von Chemiewaffen beteiligt war und sie selbst 1994 noch synthetisiert hat, hat Kampfstoffe der "Nowitschok"-Gruppe Mitte der 90er-Jahre an mutmaßliche Kriminelle weitergegeben. Das berichtet die renommierte russische Zeitung "Nowaja Gaseta" mit Verweis auf historische russische Ermittlungsakten am Donnerstagnachmittag auf ihrer Internetseite.

Laut den zitierten Dokumenten hat Leonid Rink, seinerzeit führender Mitarbeiter eines in der Chemiewaffenproduktion engagierten Instituts in der Region Saratow, im Herbst 1994 einen der Geheimhaltung unterliegenden Kampfstoff synthetisiert und ihn in Folge an Personen aus dem Umfeld der organisierten Kriminalität verkauft, im September 1995 auch an Tschetschenen in Moskau. Für Ampullen mit Hunderten tödlichen Dosen habe er 1.500 oder 1.800 Dollar bekommen, referiert die russische Zeitung Vernehmungsprotokolle mit dem Chemiker.

Rink: Russland hatte kein Motiv

Ausgangspunkt für die Ermittlungen in Bezug auf Rink war die Ermordung des Moskauer Bankiers Iwan Kiwelidi gewesen, der im August 1995 durch einen im Telefonhörer versteckten chemischen Kampfstoff getötet worden war. Zwei in den Neunzigerjahren wegen der mutmaßlichen Weitergabe von Chemiewaffen gegen Rink eingeleitete Strafverfahren wurden jedoch 1999 und 2004 eingestellt. Der in den USA lebende Chemiker Wil Mirsajanow, der vor seiner Emigration in den Neunzigerjahren in einem Moskauer Chemiewaffeninstitut tätig war, habe auf Grundlage damaliger Gutachten den im Fall Kiwelidi verwendeten Stoff der "Nowitschow"-Gruppe zugeordnet, schreibt die "Nowaja Gaseta".

Rink selbst hatte am Dienstag in einem Interview mit der staatlichen russischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti erklärt, dass Russland kein Motiv gehabt habe, den ehemaligen russisch-britischen Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter zu töten. "Für Großbritannien, die USA, China und entwickelte Staaten mit Chemieindustrie stellt es kein Problem dar, solche Waffen zu produzieren", erklärte er und beschuldigte indirekt London. Denn die Briten würden Moskau keine Proben übergeben, da diese trotz Bemühungen von Spezialisten auf unterschiedliche Technologien (der Produktion, Anm.) verwiesen, sagte er.

Modifikation

Insbesondere eine Modifikation dieses Interviews nach seiner Veröffentlichung sorgte für Aufmerksamkeit. Nachdem Rink in einer ersten Variante davon gesprochen hatte, dass Nowitschok ein "ganzes System der Anwendung von Chemiewaffen" sei, verschwand dieses Zitat später von der Internetseite der Nachrichtenagentur. Anstelle dessen erklärte der Experte nun im Einklang mit der Position des russischen Außenministeriums, dass es absurd sei, von einer Formel für "Nowitschok" und einem Projekt mit dieser Bezeichnung zu sprechen. Verweise auf Rolle des Chemikers bei der Weitergabe von Kampfstoffen Mitte der Neunzigerjahre blieben bei RIA Nowosti unerwähnt. (APA, 22.3.2018)