"Dass meine Fahrt in der Dunkelheit enden würde, war ohnehin nicht zu verhindern", schreibt Martin Prinz. Die GPS-Koordinaten seiner Fahrt sind bekannt.

Martin Prinz

Martin Prinz wurde 1973 in Wien geboren. Er studierte Theaterwissenschaft und Germanistik.

Martin Prinz

N46°38’11.3’’, E14°18’44.0’’

Ich hatte alles eingepackt. Der Rückraum des VW-Busses war mit bunten afrikanischen Tüchern verhängt. Ein anderer Sichtschutz für meinen Schlafplatz war zwei Tage nach Weihnachten nicht aufzutreiben gewesen. Ich hatte kein Ziel, im Süden des Landes brach ich auf. Es war später Nachmittag. Lieber wäre ich nicht erst vor Stunden, sondern vor Tagen losgefahren. Der erste Halt wartete schon nach einer Handvoll Kilometern.

N46°33’32.6’’, E14°13’55.0’’

Eine Gedenkstätte am Ende einer langgezogenen Kurve. Immer noch wirkte sie improvisiert, obwohl der kitschige Bildstock, die metallene Justitia mit Schwert und Waage, die zur Begrenzung aufgestellten Kerzen und die Farbkopien mit Verschwörungstheorien keinerlei Zufälligkeit bargen. Vor über neun Jahren war aus dieser Kurve ein schwarzer Wagen geflogen, vorbei an Einfamilienhäusern, kleinen Gärten, und mit dem Betonsockel eines Gartenzauns kollidiert. Es hätte auch ein Schlafzimmer sein können oder ein Kinderzimmer. Doch Zufall oder Glück, im richtigen Moment war ein niedriges Mäuerchen im Weg, das den Wagen zum Stillstand brachte. Die Kerzen erzählten von diesem Glück bis heute nichts, leuchteten nicht für die verschonten Anwohnerinnen und Anwohner, sondern brannten immer noch für den stockbetrunkenen Kamikaze.

An den Hausmauern schob sich erstes Abenddunkel hoch. Zugezogene Vorhänge, die Schemen von Zimmerlichtern und Bildschirmflimmern. Immer wieder blendeten die aus der Kurve kommenden Autos auf. Mein Kleinbus stand im Halteverbot, das wusste ich, kannte die beflissene Ader österreichischer Landbevölkerung, fühlte mich aber bei ganz anderem ertappt. Als durchschauten die Augen hinter den Aufblendlichtern nur zu gut, dass zu dem VW-Bus mit dem Wiener Kennzeichen kein Trauernder gehörte, der sich die Ehre des hier Verstorbenen mit Verschwörungstheorien zurechtbog. Metergenau betätigten sie ihre Fernlichter an der Stelle, an der jener Mann abgehoben war, dessen Gedenkstätte ich in der Vorstellung so oft schon den Garaus gemacht hatte. Platz genug hätte ich im Wagen diesmal für all die Kerzen und Blumen gehabt, für die Rosenkranz-Kettchen und Billetts, für die Statue, den Bildstock und den Schaukasten mit seinen billigen Kopien.

Über den Karawanken stauten sich dunkle Wolken. Ich fuhr weiter, überquerte im letzten Licht des Tages einen aufgestauten Fluss, bog in das weite Tal Richtung Westen, um noch ein Stück länger der untergehenden Sonne zu folgen. Wie weggeblasen alle Zweifel an der Fahrt. Beruhte sie noch so sehr auf einem Klischeebild meiner Arbeit, als kurzfris tige Ausflucht aus einem eng gewordenen Alltag, erfüllte sie ihren Zweck. Im Fluss dunkle Eisschollen, am Himmel die Wolkenschuppen des Föns. Ich horchte auf, als in den Radio-Nachrichten Schnee angekündigt wurde.

Martin Prinz

N46°54’52.0’’, E13°52’30.0’’

Stille. Dann toste der Südwind auf, der die ganze Nacht am Wagen gerüttelt hatte. Kurz vor acht Uhr die ersten Schneemobile. Ich blinzelte hinaus, entdeckte einen Spaziergänger mit Hund am Seeufer, kurz darauf passierte ein verschlafener Liftwart meinen Wagen. Es war Zeit, in Richtung der regulären Parkplätze an der Passstraße zu verschwinden. Kaum hatte ich umgeparkt, tauchten die ersten Autos auf. Langsam wurde der Schneefall dichter, ein Skilehrer lief in schwerer Montur Richtung Arbeit. Auf meinem Gaskocher kochte Teewasser, der Motor brummte, langsam wurde mir warm.

Vor ein paar Jahren hatte ich das seltene Glück von Spiegeleis hier erlebt. Eis, so durchsichtig, dass jeder Schritt im Schwarz des Wintersees auftrat. Einzig an den Spannungsrissen waren Dicke und Festigkeit erkennbar gewesen. Ein solches Spiegeleis habe es noch nie gegeben, hatten die Bewohnerinnen und Bewohner der Passhöhe gesagt. Noch nie, hieß hier oben: nicht seit hundert Jahren. So schön der See auch war, so unergründlich die von nichts als der Zeit geschliffenen Bergkuppen. Bis Anfang des letzten Jahrhunderts wäre keiner auf die Idee gekommen, auf einem solch windigen Pass sesshaft zu werden. Heute lebte man davon. Am besten in Wintern, in denen Adria-Tief um Adria-Tief Schneefall brachte. Einen solchen Winter wie aus dem Bilderbuch hatte ich damals hier verbracht. Woche für Woche war die Schneedecke gewachsen. Die Hütten und Häuser, die rings um den See Wiesen, Hänge und lichte Wälder in Siedlungen verwandelt hatten, wurden im Weiß beinahe wieder unsichtbar. Hieß es an einer Stelle Almhüttendorf, nannte es sich an der anderen Chalet-Siedlung, wurde die eine in ihrer Ursprünglichkeit beworben, rühmte sich die andere mit der Exklusivität kanadischer Rundhölzer. Ein Großteil war nicht nur zu mieten, sondern arbeitete an der Rückseite der tatsächlichen Nutzung auch als Anlageobjekt oder Aktienpaket vor sich hin.

Martin Prinz

Ich nippte am heißen Tee, sah zu, wie ringsum Autotüren aufgingen, Skischuhe zugeschnallt, Helme aufgesetzt wurden. Für Augenblicke das Bild, als handelte es sich um Mondpioniere, die mit geschulterten Skiern und jenem schlingernden Schritt, wie ihn allein Skischuhe erzeugen, die Lifte ansteuerten. Ich fragte mich, ob auch die Herausgeberfamilie der meistgelesenen Zeitung des Landes schon in dem an der südlichen Uferanhöhe wuchernden Hotelkomplex eingetroffen war. Erholung brauchte sie gewiss.

Tag für Tag arbeitete sie mit ihrem Blatt daran, jenem Bevölkerungsteil, der zwangsläufiger Verlierer einer Politik der Märkte und des Kapitals ist, jedweden Impuls zur politischen Äußerung zu nehmen, indem sie Wut, Verzweiflung und Scham über die missliche Lage in die breiten Bahnen der Aggressions abwälzung lenkte. Wo anders als an einem Ort, dessen Wellnessbereiche zwischen Chinaturm, türkischem Hamam und beheiztem See-Pool selbstverständlich Landschaften hießen, ließe sich besser von der Wirklichkeit Auszeit nehmen?

Aus nächster Nähe hatte ich in jenem Winter miterlebt, wie entspannt das Herausgeberehepaar ihrem schwarzen Großraumwagen mit Kind und Kegel entstieg. So automatisch wie müßig hingegen die Überlegung, dass ihre Kosten bereits nach einer Urlaubswoche die Jahreseinkommen jener Haushalte weit überstiegen, deren hauptsächliche Informationsquelle sie täglich produzierten.

Besser, ich hielt mich nicht damit auf. Dass meine Fahrt auch an dem Tag in der Dunkelheit landen würde, war ohnedies nicht zu verhindern. Ebenso wenig sollte dies an irgendeinem weiteren meiner Reise der Fall sein. Verantwortlich dafür nicht nur die wenigen Tageslichtstunden um Weihnachten und Neujahr. Auch meine Umständlichkeit im Bus tat das Ihre dazu. So musste die Kleidung erst im Schlafsack vom eigenen Körper gewärmt werden, bevor ich morgens nach einer ebenso hastigen wie gründlichen Katzenwäsche hineinschlüpfte.

Martin Prinz

Danach, immer noch vom Schlafsack umhüllt, setzte ich mich nach vorn, startete zum Aufheizen des Wagens den Motor, nahm den Wasserkocher in Betrieb, schaute hinaus, sah den Leuten zu, dem Wettertreiben, goss Tee auf, kochte erneut Wasser, aß Müsli und machte mir die ersten Notizen. Vergingen allein damit bereits eineinhalb, zwei Stunden, beanspruchte ein anderes Spezifikum meiner Reise die nächsten drei. Denn so ziellos und ungeplant ich unterwegs war, eine Bedingung hatte ich doch an die Auswahl der Übernachtungsorte geknüpft: Eine Langlaufloipe sollte es geben. Skier und Stöcke lagen samt Wachsmaterial neben dem Schlafplatz parat. Nicht gänzlich ohne Hintergedanken, war mir der Sport doch stets eine verlässliche Tarnkappe für Begegnungen mit Leuten, deren Blick auf die Welt, auf Glück und Leben zwar kein völlig anderer war, oft aber deren politische Einstellung, ihre Schuldzuweisungsmechanismen, ihre Angst und Wut. Und obwohl diese Reise keine derartige Recherche zum Ziel hatte, vielmehr die so vage wie utopische Vorstellung, durch andere, weniger greifbare Membranen in dieses Land vorzudringen, auf meine Skier verzichtete ich nicht. Als Narrenkappe taugte die Sportmontur ohnedies besser.

Regen im Tal. Die Landschaft grün und braun. Es war die Tageszeit der Einkaufsfahrten. Die Straßen glänzten vor Nässe, und allein die Tatsache, dass die Fassaden immer greller gestrichen waren, je weiter die Täler wurden, je flacher das Land und je näher ich meiner Heimat am östlichen Ende der Alpen kam, erzeugte noch das Gefühl einer Strecke. Ansonsten regierte das Immergleiche. Nicht der Regen war es, die Schlieren der Scheibenwischer oder das Tagesgrau, es war die Welt der Einfamilienhäuser: Rückzug, Abschottung und Ersticken. Alltägliche Unheimlichkeit, selbst ohne Gedanken an die Keller darunter. Es genügte, wie achtlos gegenüber ihrer nächsten Umgebung, Landschaft, aber auch Überlieferung und Tradition hierzulande seit dem letzten Weltkrieg gebaut wurde. Häuser, die mit keinem Außen mehr etwas zu tun hatten, von Bedeutung nur für ihr Innen, sich selbst genügend. Hilflos lugten Kirch- oder Feuerwehrtürme daraus hervor, verschwommen auch das, was sich ringsum einmal als grüne Wiese, Weide- und Ackerland oder auch Industriegebiet abgesetzt hatte. Unterbrochen lediglich noch von den hell beleuch teten Brachen der Tankstellen, Supermärkte oder Autohäuser.

Foto: Martin Prinz

N47°49’0.0’’, E15°28’0.0’’

Im Dunkeln musste ich dann noch ein zweites Mal in meine Montur. Die dicken Wolken und die Flocken sorgten für eine Stille, in der das Zischen der Skier oder die unregelmäßigen Windböen sofort wieder verschluckt wurden. So nah der Vollmond an diesem Abend auch war, so schneegierig lief ich im Lichtkegel meiner Stirnlampe. Runde um Runde fand ich meine eigenen Spuren als leichte Dellen in der frischen Schneedecke, Ahnungen ähnlicher Fährten denn einer tatsächlichen. Während der ersten Stunde passierte lediglich ein einziger Wagen die vorbeiführende Straße. Der zweite, ein Fahrzeug der Straßenmeisterei, kam erst eine knappe Stunde später. Unweit des Loipeneinstiegs hielt er, zwei Männer stiegen aus und hantierten an einem Verkehrsschild. Dass es sich um die Tafel zur Anzeige der Kettenpflicht für jene lange steile Passage handelte, die in mein Heimattal hinunterführte, erkannte ich erst auf dem Rückweg zu meinem VW-Bus. Von jeher war dies bei Schneefall der erste kritische Abschnitt weit und breit. Ich hatte es gerade noch rechtzeitig heraufgeschafft. Während meiner letzten Runde kam kein Auto mehr, weder von der einen noch von der anderen Seite. Und auch keine Windböen, nur der stille Schneefall und ich.

Umso mehr überraschte mich ein hastig auftauchender Wagen, als ich mit abgeschnallten Skiern schließlich die Straße überquerte. Er steuerte den Parkplatz an, wendete in harscher Bewegung und hielt, ohne einzuparken, mit in meine Richtung aufgeblendeten Lichtern. Zwei Männer stiegen aus, einer ging sofort auf mich zu, der andere blieb ans Auto gelehnt stehen. Offene Anoraks, Arbeitslatzhosen, schwere Schuhe, ihre Blicke beharrlich auf mich gerichtet. Beide waren sie bullig. Ich durfte nicht ausweichen, wusste ich instinktiv. Das war kein falscher Stolz, sondern Vorsicht, um nichts in meinen Rücken oder an die Seite zu bekommen.

Ich grüßte, der eine, der raschen Schrittes nähergekommen war, blieb einen Meter vor mir stehen, schien fast zu platzen, zwang sich zu einer Antwort. Lieber hätte er mich gleich angeherrscht: Was ich mir denn einbilde, im Dunkeln mit Lampe zu laufen, ob ich nicht wisse, dass die Loipe um vier Uhr schließe? Ich solle von Glück reden, dass kein Jäger mich erwischt habe! – Was mir dann geblüht hätte, formulierte er nicht, mir genügte sein Atem, um mir vorzustellen, wie gern er jetzt selbst ein solcher Jäger wäre. Ihn im Gegenzug zu fragen, wer er eigentlich sei und in welcher Funktion er mich anspreche, hätte ihm eine solche Verwandlung auf der Stelle ermöglicht.

Stattdessen entschuldigte ich mich und wusste, dass nun der brenzligste Moment folgte. Dass seine Wut noch einmal als Irrlicht aufflackerte, war kein gutes Zeichen. Es lag an mir, das Gespräch rasch zu beenden und zu gehen. Am besten antwortete ich ihm mit einem deutlichen Anklang von Dialekt und auch nicht mit zu vielen Worten. Ein kurzes Umreißen des Geschehens, eine sachlich klingende Wiederholung der Entschuldigung, nicht mehr, sonst würde ihm deutlich werden, wie schnell er verstummt war, und er würde auf der Stelle zuschlagen, selbst wenn er damit doch nur sich selbst gemeint hätte.

Martin Prinz

N47°41’10.3’’, E13°4’11.1’’

Das Dach der Tankstelle ragte leuchtend in den Abendhimmel. Der erste Tag des Jahres. Am Spätnachmittag kam in den Radionachrichten die Mitteilung, die neue Regierung habe per Umlaufbeschluss die wichtigste Beschäftigungsinitiative für ältere Arbeitssuchende aufgehoben. Eine Imponiergeste, adressiert an den im Wahlkampf stets zitierten kleinen Mann. Die sogenannte starke Hand hatte sich der kleine Mann gewünscht. Sogar, wenn sie sich gegen ihn richtete. Am Neujahrstag begegnete ich ihm in einem Tankstellenshop. Er war nicht klein, trug einen Rucksack aus Zeltstoff und eine Tarnuniform, wie sie in Army-Shops erhältlich ist. Er holte Bier, war freundlich und betrunken.

Im Unterschied zu den Tagen davor hatte ich am Neujahrstag ein Ziel. Eine Ortschaft in den Hügeln südöstlich der Festivalhauptstadt. Der Grund dafür war einfach, dort gab es eine Flutlichtloipe. Vorher musste ich noch in die Stadt, nach einer Woche war der Besuch eines Waschsalons überfällig. Dort saß, trotz vollautomatischer und per Geldeinwurf zu betreibender Maschinen, in einem Hinterzimmer ein Mann im Mantel und versah vor einem halb laut laufenden TV-Apparat seinen Dienst, er beantwortete jede meiner Fragen, war sogar freundlich. An der Trostlosigkeit änderte es nichts, Waschsalon, Mann, Bildschirme, Neonlicht und menschenleeres Einkaufszentrum. Ich war froh, als ich fertig war, und entschied mich für die direkte Route über die Landstraße.

N47°46’29.7’’, E13°11’51.6’’

Wälder und Felsabhänge glitzerten im Licht des Vollmonds silbrig, weißer Nebel füllte die Schlucht fast bis zur in den Fels gesprengten Straße. Silbrig auch die Fahrbahn, silbrig und eisglatt. Ich fuhr im Schritttempo. So wie seit Kilometern, als ich nach einer kleinen Siedlung über eine Kuppe gekommen war: vor mir ein langgezogenes Talbecken. Ich staunte über das Weiß des Nebels im Mondlicht. In dem Moment schien der Wagen jeden Bodenkontakt verloren zu haben, so leicht, so unkontrollierbar fühlte er sich an. Einzig meiner von Tag zu Tag ruhiger geworden Fahrweise war es geschuldet, dass mich nicht Augenblicke später das ganze Gewicht des Wagens hinabgezogen und irgendwo im tief abfallenden Straßengraben hatte aufprallen lassen. Stunden später schlug ich ganz anders auf.

Die Flutlichter der Loipe waren ausgegangen, die letzten Trainierer verschwunden, in der kleinen Ortschaft war kein Mensch unterwegs, und ich hatte Hunger. Die Gaststube des kleinen Hotels am Hauptplatz war noch offen. Im Eck stand eine Jukebox. Unübersehbar, wie viel Alkohol in dem verrauchten Lokal in den letzten Stunden geflossen sein musste. Nichts davon war mir fremd. Ich bestellte zwei Schinken-Käse-Toasts und ein kleines Bier. Gegenüber, am langen Tisch neben dem Eingang, saßen lauter Männer, kaum erwachsene ebenso wie ältere. Einige schliefen mit dem Kopf auf dem Tisch, schreckten nicht einmal hoch, wenn es laut wurde. Die Schläfer waren allesamt jung, während unter den Älteren unverkennbar auch solche waren, die zu den Ehrenwerten im Ort gehörten. Wenn nicht der Bürgermeister selbst, so zumindest sein Vorgänger, ein Feuerwehrkommandant oder Skivereinsobmann, ein wohlbestallter Handwerksbetriebsbesitzer sowie der eine oder andere größere Bauer und Grundstücksbesitzer. Die tot schlafenden Jungen kümmerten sie alle nicht. Sie sahen einander nicht einmal an, sie schauten im Grunde überhaupt nicht aus sich selbst heraus.

Martin Prinz

Am Nebentisch befanden sich Hotelgäste, zwei Paare mittleren Alters und ein sehr junges. Die beiden älteren Männer hatten eine regional nicht zuordenbare, doch exklusive Tracht angelegt. Beide rauchten Zigarren. Ihre Frauen sprachen nicht viel, ebenso wenig die jungen Leute. Seiner Physiognomie, Mimik und Gestik nach war der junge Mann der Sohn eines der älteren Männer. Bei jedem Zug an der Zigarette spitzte er seine Lippen, als küsste er sie, fast spiegelbildlich zu seinem Vater. Dass auch die beiden älteren Männer nicht viel redeten, fiel mir erst nach einiger Zeit auf. Tatsächlich las ich ihren Tonfall zuerst an ihren Gesichtern ab, an ihrer Haltung, an der Art, wie sie ihre Bäuche genüsslich hinausstreckten, in ihren Stühlen lehnten und an dem kleinen Blick aus ihren Augen. Wenn es so etwas überhaupt gab, war das, was ich an ihnen sah, freudiger Zynismus. Eine der beiden Frauen fütterte immer wieder die Jukebox, machte keinen Unterschied zwischen Helene Fischer, Creedence Clearwater Revival, Andreas Gabalier oder den Rolling Stones, kam jedes Mal wieder mit demselben beseelten Lächeln an den Tisch zurück, wo sie dann erneut kein Wort sprach.

Nichts an all dem wunderte mich. Nichts ließ mich rätseln. Schon gar nicht der ostdeutsche Dialekt und die Genüsslichkeit der beiden Männer in der nicht nur aufgrund des Rauchs und Alkohols engen Gaststube. So stellte ich mir Politiker der neuen Rechten zu Feierabend vor. Unverhohlen zufrieden inmitten der von ihnen erzeugten Abgestumpftheit. Zu befürchten hatten sie nichts. So klar sich ihre Politik gegen eine immer weiter wachsende Bevölkerungsschicht wandte, die sie gönnerhaft unter dem Begriff des kleinen Mannes fasste, so gründlich sie jeden Blick auf ein besseres Leben verstellte, war keinerlei Gefahr eines Aufbegehrens gegeben. Blickdicht schirmte der wieder zu Konjunktur gekommene gesunde Menschenverstand vor allen Utopien ab. Ob Flüchtlinge, Frauen oder neuerdings auch Arbeitslose, für Gelegenheiten, um blindlings nach unten zu treten, anstatt die Faust nach oben zu ballen, wurde gesorgt.

Ich nahm mein Notizbuch aus der Tasche, wusste, dass es als Zeichen genügte. Am langen Tisch wurde gelallt, brachen die meisten Sätze wie Stummel ab. Die beiden Trachtenmänner sahen mich an. Ich bildete mir ein, kurz verhärtete sich ihr Blick, einen Moment später war es umso prallerer Stolz, mit dem sie sich in ihrem Zigarrenpaffen präsentierten. Wie inszeniert fügte sich in mein Bild, dass der an ihren Tisch eilende Kellner eine angesichts seines grauen Ansatzes eigens gefärbt wirkende Hitler frisur trug und einen dement sprechenden Bart. Die Imitation sprang mir aus seinen Gesichtszügen so deckungsgleich entgegen, als befände ich mich in einem Traum. Leicht vorgebeugt stand er bei Tisch und legte seine Hand im Annehmen neuer Bestellungen genüsslich über die linke Pobacke.

Das war die Wirklichkeit. Ob in dieser Gaststube oder in anderen, ähnlichen Szenerien. Schon zur Halbzeit meiner Reise war ich angekommen. Im Inneren eines Landes, in dem spätestens mit dem grinsend am Nachbartisch für mein Notizbuch lancierten Judenwitz von Kenntlichkeit nicht mehr als Entstellung geredet werden durfte. Wozu denn auch noch Masken, wenn die Gegenwart jeder Zuspitzung in einer Weise zuvorkam, dass selbst den Übertreibungen des Österreich-Erschöpfers aus Ohlsdorf die Luft wegbliebe: erstickt ‒ oder vielmehr erfroren ‒an ihrem Ebenbild. (Martin Prinz, 24.3.2018)

Foto: Martin Prinz