Lawan Stephen wählt seine Worte mit Ruhe und Bedacht. Um den 23-Jährigen herum ist es laut. Von der großen Straße, die die Provinzhauptstadt Lafia mit Nigerias Hauptstadt Abuja verbindet, dringt Autolärm in die staubige Seitenstraße. Der Feierabendverkehr hat längst eingesetzt. Um den jungen Mann herum rennen Kinder.

Ein paar Mädchen versuchen, Erdnüsse zu verkaufen. Mitten im Lärm reist Stephen in Gedanken zurück in seine Heimatstadt Gwoza. Von dort ist er im November 2015 vor der Terrorgruppe Boko Haram geflüchtet. Seitdem versucht er, am Rande von Abuja zu überleben, wünscht sich aber nur eines: Irgendwann möchte er zurück in seine Heimatstadt im Bundesstaat Borno gehen.

Der 23-jährige Lawan Stephen floh mit seinen Eltern ein halbes Jahr nach der Militäroffensive gegen die Terrorgruppe Boko Haram 2013 in die nigerianische Hauptstadt.
Foto: Katrin Gänsler

1,36 Binnenflüchtlinge in Borno

Damit ist Stephen, der in diesem Jahr die Schule abschließt, einer von mehr als 1,78 Millionen Binnenflüchtlingen, die in ihrem Heimatland auf der Flucht sind. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) ist besonders der Bundesstaat Borno betroffen, wo sich die Terrormiliz Boko Haram 2002 gründete. Dort leben allein 1,36 Millionen Internally Displaced Persons (IDPs) – Binnenflüchtlinge.

Menschen wie Stephen werden aber erst gar nicht gezählt, da sich Statistiken nur auf den Nordosten beziehen. Als die Anschläge der Miliz ab 2013 immer mehr zunahmen, retteten sich jedoch auch zahlreiche Menschen in die Hauptstadt Abuja sowie die angrenzenden Bundesstaaten. Viele mieteten kleine Zimmer an, kamen bei Verwandten unter, zogen in halb fertige Häuser. Staatliche Unterstützung gibt es nicht, höchstens Spenden von Hilfsorganisationen oder Privatpersonen.

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Im Nordosten Nigerias leben die Binnenflüchtlinge in Lagern. Dort werden sie in den Statistiken erfasst.
Foto: REUTERS/Akintunde Akinleye

"Es wurde nicht besser"

Stephen flüchtete mit seinen Eltern erst spät und mehr als ein halbes Jahr nach Beginn der Militäroffensive gegen die Gruppe. Das ist eher ungewöhnlich. "Wir hatten immer gehofft, dass es besser wird. Das wurde es aber nicht", erklärt er. Seitdem ist er zwar in Sicherheit, doch das Überleben ist schwierig. Neben der Schule sucht er nach Jobs, um seine Eltern zu unterstützen. Manchmal kann er auf dem Markt aushelfen, meist klappt es nicht. Es ist auch unklar, ob er nach seinem Schulabschluss den Bürojob findet, den er sich wünscht.

Eine genauso große Herausforderung sind vor allem die Erinnerungen, die immer wieder hochkommen. Der junge Mann schaut auf den sandigen Boden und schweigt einen Moment. Seine Eltern und Geschwister haben zwar überlebt. "Aber ich habe enge Verwandte verloren, mein Onkel ist gestorben. Immer wieder hörte ich, dass einige meiner Mitschüler umgekommen sind. Freunde, Nachbarn." Diese Gewalterfahrung haben im Nordosten mehrere Millionen Menschen gemacht. Doch fast alle Opfer müssen ohne psychologische Unterstützung auskommen und mit den grausamen Erlebnissen schlussendlich selbst fertig werden.

Rückkehr in weiter Ferne

Dabei heißt es seit Jahren von Präsident Muhammadu Buhari, der 2015 an die Macht kam, dass die Terrorgruppe "technisch besiegt" sei. Laut Hussaini Abdu, Landesdirektor der Hilfsorganisation Plan International und Nordnigeria-Experte, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, wie viele Anhänger Boko Haram noch hat. Genauso wenig gibt es Informationen zu der vor rund zwei Jahren entstandenen Splittergruppe um Abu Musab Al-Barnawi, die den westafrikanischen Flügel des "Islamischen Staates" (IS) repräsentiert. Die Terrorgruppen sind aber nicht mehr stark genug für lang anhaltende Kämpfe, was sie jedoch nicht weniger gefährlich macht. "Die Gruppe greift an und flieht wieder." Auf diese Taktik hat sich das nigerianische Militär bis heute nicht eingestellt. So ist es erst vor kurzem gelungen, aus einer Schule im Bundesstaat Yobe 110 Schülerinnen zu entführen.

Für Stephen ist das ein Zeichen, dass die Rückkehr nach Gwoza in weiter Ferne liegt. "Ich weiß nicht, warum es heißt, Boko Haram sei besiegt." Zum ersten Mal klingt seine Stimme nicht mehr monoton, sondern fast wütend. Er mutmaßt, dass die Aussage politische Gründe hat. Doch Stephen beruhigt sie nicht, im Gegenteil. "Manchmal gibt es jeden Tag neue Tote. Wenn nicht endlich mehr Sicherheitsmaßnahmen ergriffen werden, breitet sich der Kampf wieder aus", so seine Prognose. (Katrin Gänsler aus Abuja, 25.3.2018)