Familientherapeut, Autor und STANDARD-Kolumnist Jesper Juul.

Foto: family lab

Diese Serie entsteht in Kooperation mit familylab Österreich.

Foto: family lab

Wir wissen nicht, wie viele Eltern heute tatsächlich ihre Kinder strafen. Aber wir wissen, dass es im vergangenen Jahrhundert eine gewisse Einigkeit unter Ärzten, Geistlichen und Eltern gab, die Strafen als "notwendig und gut für Kinder" befanden.

Ich werde oft gefragt, ob Strafen tatsächlich so schädlich für Kinder sind. Machen wir uns doch zunächst Gedanken darüber, was gut und notwendig für Erwachsene ist – und dann darüber, in welchem Umfang dies gut oder schlecht für Kinder, ihr individuelles Wohlbefinden und auch ihre Entwicklung ist. Dazu gehört auch die Art der Beziehung zwischen dem einzelnen Erwachsenen und dem einzelnen Kind.

Bewusster Lernprozess

Wut, Schmerz oder auch Trauer sind natürliche Prozesse, die Kinder in ihrem Heranwachsen erleben, genauso wie Freude und Wohlbefinden. Der entscheidende Unterschied liegt jedoch darin, ob das Unbehagen eine natürliche Folge einer souveränen Handlung des Kindes ist – oder vom Erwachsenen provoziert wird.

Alle Kinder dieser Welt üben über Wochen und Monate, bis sie zu zum ersten Mal von einem Stuhl zum anderen gehen können. Wiederholte Male werden sie scheitern, immer wieder fallen sie auf den Boden. Das ist eine natürliche Konsequenz, die Erwachsene mit Bedacht aushalten müssen, denn es ist eine wichtige Lernübung für das Kind. Genauso, wie es Lesen, Schreiben, Rechnen und soziale Regeln lernen wird. Nur wenn wir dem Kind erlauben, durch frustrierende Momente sowohl Schmerz als auch Freude zu empfinden, wird es die Fähigkeit, sich Ziele zu setzen, Selbstdisziplin, Ausdauer und vieles andere entwickeln können. Erfahrungen, die dem bewussten Lernprozess eigen sind.

Eigenes Unbehagen

Wenn also die Eltern diesen natürlichen Prozess nicht aushalten können, setzen sie ihr eigenes Unbehagen mit "Grenzen setzen" durch. Sie sagen dann zum Beispiel, das Kind solle nicht zu früh Treppen steigen, denn das könnte gefährlich sein. Das Kind muss dann gehorsam auf eine künstlich definierte Grenze reagieren.

Ob das für Eltern notwendig ist? Für manche zweifellos, denn ihnen ist entweder nicht bewusst, wie Kinder und vor allem in welchen Tempo sie lernen. Oder sie wissen nicht, wie sie selbst mit ihrem eigenen Unbehagen umgehen sollen. Manchmal ist es auch das Verlangen nach Macht, mit dem sie nicht umgehen können.

Für das Wohlergehen und die Entwicklung ist es definitiv nicht gut. Je mehr diese Praxis in die Entwicklung eingreift, umso mehr leidet die Fähigkeit des Kindes, zu lernen und natürliche Konsequenzen zu erfahren.

Pause einlegen

Dies setzt sich im Drang vieler Eltern fort, Kinder von jeglicher Art des Unbehagens zu schützen. Ich sehe darin einen der Hauptgründe dafür, dass wir immer mehr jungen Menschen begegnen, denen es an grundlegenden Lebenskompetenzen mangelt, die etwa zu schnell aufgeben, wenn sie sich mit Anforderungen der Schule an das akademische Lernen konfrontiert sehen.

Viele Erwachsene sehen manchmal keinen anderen Ausweg, als eine "Pause" einzulegen. Dabei wird das eigene Unbehagen auf das Kind übertragen und als "Beruhigungsmethode" missbraucht.

Was wäre also die Alternative, zu einem "Du gehst jetzt in Dein Zimmer"? Halten Sie einen Moment inne und überlegen Sie, ob Sie Ihr Kind dessen individueller Privilegien von Unwohlsein berauben und wie Sie mit dem eigenen umgehen möchten. Sie könnten also sagen: "Ich glaube, es wäre gut, jetzt eine Pause zu machen. Lass uns gemeinsam hinsetzen!"

Lösungen finden

Was in diesem stressvollen Momenten meist passiert, ist, dass die Qualität der Interaktion zu einem "falschen" Verhalten führt – sowohl beim Erwachsenen als auch dem Kind.

Sie als Erwachsene dürfen den ersten Schritt zu einer für beide gesunden Interaktion machen und sagen: "Ich weiß jetzt überhaupt nicht, was ich tun soll. Wir müssen jetzt eine Pause machen, um zur Ruhe zu kommen, und eine gute Lösung finden, wie es weitergeht. Lass uns in dein Zimmer gehen und uns eine Weile beruhigen."

Damit signalisieren Sie Ihrem Kind, dass Sie seine und auch Ihre eigenen Gefühle ernst nehmen, und bieten gleichzeitig eine Art und Weise an, wie mit Irritationen umgegangen werden kann, ohne zu bestrafen, sondern in Beziehung zueinander. (Jesper Juul, 1.4.2018)