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Berlin – Nur noch drei Runden. Dann weiß das Publikum in Berlin, dann weiß die ganze Schachwelt, wer Magnus Carlsen im November in London in einem über zwölf Partien gehenden Wettkampf herausfordern wird. Nach wie vor hat Fabiano Caruana die besten Chancen, der am Freitag gegen den derzeit völlig unberechenbaren Wladimir Kramnik kein Risiko eingeht und ohne größere Aufregungen ein weiteres Remis erreicht.

Die Frage lautet nun: Kann es sich Caruana, der bei +3 notiert, bereits leisten, die letzten drei Runden abzuremisieren? Das ist schwer zu beurteilen. Der halbe Punkt Vorsprung auf Shakhriyar Mamedyarov ist jedenfalls alles andere als ein Ruhekissen. Und seit dieser Runde hat Caruana neben Mamedyarov und dem einen halben Punkt dahinter liegenden Alexander Grischtschuk noch einen dritten Verfolger im Schlepptau: Vizeweltmeister Sergei Karjakin.

Tumulte sind möglich

Dessen Schwarzsieg über Lewon Aronjan beweist in dieser elften Runde zweierlei: Erstens, dass der Armenier sich wirklich in grauenhafter Form befindet. Mit nur dreieinhalb Punkten aus elf Partien wächst sich das Turnier – auch was den Elo-Verlust angeht – für Aronjan inzwischen zu einer veritablen Katastrophe aus. Zweitens beweist die Partie, über welche psychische Stärke und Ausdauer Karjakin nach wie vor verfügt. Nach zwei Niederlagen in den ersten Turnierrunden sowie einigen uninspiriert wirkenden Remisen bereits gänzlich abgeschrieben, hat sich der nach Elo schwächste Teilnehmer durch Siege über Kramnik und Aronjan wieder nach vorne gekämpft und liegt inzwischen nur mehr einen Punkt hinter Turnierleader Caruana, dessen letzter voller Punkt inzwischen schon einige Partien her ist.

Der Zwischenspurt Karjakins kommt für ihn zumal genau zur rechten Zeit: In Runde 12 wird der Russe die weißen Steine gegen Fabiano Caruana führen. Mit einem Sieg in dieser Begegnung könnte Karjakin nicht nur sich selbst Richtung Spitze katapultieren, sondern auch zu einer Turniersituation beitragen, bei der die Führenden kurz vor Schluss wieder von Teilen des Feldes geschluckt werden. In diesem nicht unwahrscheinlichen Fall könnten vier oder sogar mehr Spieler vor der vierzehnten und letzten Runde noch realistische Chancen auf den Turniersieg haben. Angesichts der herausragenden Bedeutung, die der mit einem WM-Match gegen Magnus Carlsen verbundene Sieg in Berlin für jeden der Teilnehmer biographisch wie finanziell bedeuten würde, wäre eine tumultöse Abschlussrunde so gut wie garantiert.

Caruanas Reminiszenz

Bis heute unvergessen ist in dieser Hinsicht das Finale des Kandidatenturniers in London 2013, bei dem die Führenden Magnus Carlsen und Wladimir Kramnik in der letzten Runde beide ihre jeweilige Partie verloren, weil sie beide davon ausgehen mussten, einen vollen Punkt für den Turniersieg zu benötigen und deshalb zu viel Risiko nahmen. Der Rest ist Schachgeschichte: Carlsen hatte die Nase nach Zweitwertung vorne und wurde gegen Vishy Anand Weltmeister. Kramnik wartet bis heute vergeblich auf eine weitere Chance des Kalibers London 2013.

Noch aber sind solche Szenarien in Berlin 2018 reine Spekulation, noch liegt Fabiano Caruana alleine in Führung. Denkt der US-Amerikaner vor seiner Partie gegen Sergei Karjakin daran, dass er das Kandidatenturnier in Moskau 2016 ausgerechnet mit einer Niederlage gegen diesen Kontrahenten abschloss, der deshalb an seiner statt in New York City auf Weltmeister Carlsen traf? Allerdings hätte Caruana damals einen Sieg benötigt und musste das Risiko mit Schwarz spielend deshalb in die Höhe schrauben. In der zwölften Runde im Berliner Kühlhaus ist eher damit zu rechnen, dass der junge Mann aus Brooklyn eine Menge Beton anrühren wird.

Dings Remisnetz

In seinem eigenen Remisnetz scheint sich in Runde elf Ding Liren verfangen zu haben. Der Chinese spielt Alexander Grischtschuk mit Weiß zunächst an die Wand und wickelt seinen heftigen Angriff in ein Endspiel mit Mehrqualität ab, das einen Spieler seiner Stärke vor nur geringe praktische Probleme stellen sollte. Dann aber begeht Ding eine Ungenauigkeit nach der anderen. Plötzlich gelingt Grischtschuk der Abtausch fast aller verbliebenen Bauern, sodass am Ende wieder das für den Chinesen vertraute Ergebnis steht: remis. Es ist das elfte Unentschieden in der elften Partie für Ding Liren, der damit hauptverantwortlich dafür zeichnet, dass die Remisquote in diesem höchst lebendigen Turnier nicht noch deutlich niedriger ausfällt.

Wesley So leistet seinem Landsmann Fabiano Caruana Schützenhilfe, indem er sich gegen Verfolger Shakhriyar Mamedyarov keine Blöße gibt und dem Aseri ebenfalls ein trockenes Remis abknöpft. Der Stand vor Runde 12 lautet somit: Caruana 7 – Mamedyarov 6,5 – Karjakin 6 – Grischtschuk 6 – Ding 5,5 – Kramnik 5 – So 4,5 – Aronjan 3,5.

Nach der samstäglichen zwölften Runde folgt am Sonntag der letzte Ruhetag des Turniers, bevor am Montag und Dienstag die beiden finalen Durchgänge gespielt werden. (Anatol Vitouch, 23.3.2018)