"Mir wären so viele wichtige Lebenserfahrungen verborgen geblieben, hätte ich den Schritt raus aus dem Kopftuchkäfig nicht getan", sagt Emel Zeynelabidin.

Fotos: Angelika Zinzow. privat

Im Zusammenhang mit dem Einfluss des Islam kommt immer wieder auch der Ruf nach einer "kopftuchfreien" Schule. Zuletzt sorgte diese Forderung durch die neue Parteimanagerin der SPÖ Wien, Barbara Novak, für hitzige Diskussionen. Wie denkt darüber eine Muslimin, die selbst drei Jahrzehnte lang den Hidschab trug und ihn dann ablegte?

STANDARD: Sollte die Schule generell ein kopftuchfreier Ort sein?

Zeynelabidin: Es geht hier um die Schicksale von jungen Mädchen, die vor Manipulation bewahrt werden müssen. Seit Beginn der Kopftuchdebatte im Herbst 2003 frage ich mich, wo die Stimmen der Wissenschafter sind, wenn es um das Wohl der heranwachsenden Generation geht. Warum findet keine Aufklärung statt, bei der nicht die Politik das Sagen hat? Dieses Thema ist längst ein Fall für Soziologen, Entwicklungspsychologen, Ärzte und Friedensforscher geworden. Sie alle sind uns noch Erklärungen und Handlungsvorschläge schuldig. Die Politik hingegen kennt nur Gesetze, Bestimmungen, Verbote. Sehr falsch und dürftig für eine angeblich aufgeklärte Gesellschaft.

STANDARD: Oft heißt es: Was ist dabei, wenn ein Mädchen ein Kopftuch tragen will, weil die Mama es auch tut? Andere schminken sich, stöckeln mit Absätzen oder in freizügigen T-Shirts herum. Da seien es halt Werbung oder Medien, die ein Weiblichkeitsideal vorgeben, also nichts anderes als das Kopftuch – warum das eine verbieten?

Zeynelabidin: Als ich neulich von einer strenggläubigen Mutter dieses Argument hörte, nämlich, dass ihre Tochter mit 13 begonnen hat, ein Kopftuch zu tragen, auch weil das "Andere", das unverhältnismäßige Nacheifern im Schminken und Kleiden doch so schrecklich sei, konnte ich beides nicht gut finden. Ich erlebe hier junge Mädchen in Extremen, und das kann keine dauerhafte Orientierung für eine individuelle, weibliche Identitätsbildung sein. Im Selbstfindungsprozess sollte alles, was erlaubt und möglich ist, durchaus ausprobiert werden. Sich schminken und in Schale werfen macht Spaß. Sich vermehrt aber nur mit seiner Aufmachung zu befassen ist mir zu einseitig. Der Unterschied zwischen diesen Extremen liegt jedoch darin, dass das Kopftuch ein Stempel fürs Leben werden kann. Damit wird der Selbstfindungsprozess in der Pubertät besiegelt. Das ist schlimm. Schlimmer als das Spiel mit Farbe und Klamotten.

STANDARD: Sie haben im Jahr 2005 nach 30 Jahren das Kopftuch abgelegt. Sie sind die Tochter des Gründers der deutschen Sektion von Millî Görüs, waren Vorsitzende eines islamischen Frauenvereins, gründeten den ersten islamischen Kindergarten in Berlin, also ein sehr islamisch geprägtes Leben – und dann das. Was ist passiert?

Zeynelabidin: Ich lebe nach wie vor ein islamisch geprägtes Leben, nur anders, selbstbewusster und selbstbestimmter. Heute sage ich mir: Es kann nicht sein, dass eine bestimmte Gruppe von Muslimen, nämlich die Buch- und Regelgläubigen, alleine bestimmen, was "islamisches Leben" ist. Im Islam geht es um Charakterstärke, soziales Miteinander und Selbsterkenntnis als Mittel, sich Gott zu nähern. Islam heißt Frieden mit sich und seinem Leben, Hingabe und Vertrauen an Gott. Für mich ist es wie ein kleines Wunder, dass ich die Kurve gekriegt habe und für mich wichtige Dinge des Lebens erleben darf, die mir damals "verboten" waren.

STANDARD: Das erste Mal ohne Kopftuch – wie war das?

Zeynelabidin: Das war ein längerer Prozess, ungefähr ein Jahr lang. Leute, die damit nie etwas zu tun hatten, können sich nur schwer vorstellen, was dieses Kopftuch bedeutet und mit einem macht. Beim ersten Mal war ich nicht alleine, sondern mit meinem großen Bruder in einem italienischen Restaurant in Hamburg. Zu dieser Zeit trug ich auch kein Kopftuch mehr, sondern ein Modell einer Hutmacherin, mit der ich fast ein Jahr lang Alternativen entwickelte, die ich "Kopfschmuckmodelle" nannte. Vier wurden im Haus der Geschichte in Bonn ausgestellt. Ich stand vor dem Spiegel und fragte mich, ob ich meinen Bruder überraschen sollte mit meinem Mut, weiterzugehen. Danach würde ich neue Ausweisfotos ohne alles um den Kopf machen und meine neue Identität vorbereitet haben. Mein Bruder könnte mich dabei begleiten und stärken. Angst hatte ich keine. Was hätte passieren können? Belästigung durch den Kellner oder männliche Gäste? Nichts davon geschah. Ich war in einer totalen Neuanfangstimmung.

STANDARD: Was hat es bedeutet, nicht mehr bedeckt aufzutreten?

Zeynelabidin: Natürlich war ich noch "bedeckt"! Nur nicht mehr nach Vorschrift. Jeder Mensch ist bedeckt, niemand läuft nackt herum. Überhaupt ist das ein Problem, wie Muslime den Islam verstehen, nämlich als ein Wertesystem in allen Lebensbereichen. Dabei sind Menschen die Urheber von Wertesystemen und nicht Gott. Ohne diese vorgeschriebene Bekleidung habe ich natürlich einen totalen Perspektivenwandel erlebt. Die Welt um mich herum bestand plötzlich nicht mehr aus "Nichtmuslimen", sondern aus Menschen mit eigener Geschichte und eigenen Ansichten. Ich habe noch im Jahr meiner "Enthüllung" mit Schauspielunterricht, irischem Volkstanz und Aikido angefangen – natürlich mit Körperkontakt zu "fremden" Männern. Ich erlebte, wie normal und menschlich das vorher Unvorstellbare war. Mir wären so viele wichtige Lebenserfahrungen verborgen geblieben, hätte ich den Schritt raus aus dem Kopftuchkäfig nicht getan! Heute weiß ich: Man kann auch auf andere Weise als Muslimin leben und an Gott glauben.

STANDARD: Sie waren damals noch verheiratet, Sie haben sechs Kinder. Wie hat Ihre Familie reagiert?

Zeynelabidin: Ich habe mich nicht wegen meiner "Enthüllung" scheiden lassen. Mein Mann hätte sich damit arrangieren können, dass seine Frau kein Kopftuch mehr trägt. Allerdings konnte ich mich nicht damit arrangieren, dass ich mich ernsthaft in einen anderen Mann verliebt hatte. Ich wurde als eine vom Glauben Abgefallene bezeichnet, als Ungläubige, als Teufelsbesessene. In diesen religiösen Kreisen gibt es keine anderen Erklärungsmuster. Meinen Söhnen war es völlig egal, dass ich kein Kopftuch mehr trug. Meine verstorbene Mutter, möge sie in Frieden ruhen, fragte mich nur: Schämst du dich ohne Kopftuch nicht? Nur meiner Tochter konnte ich mich anvertrauen.

STANDARD: Trägt sie ein Kopftuch?

Zeynelabidin: Meine Tochter hat sich am Anfang mit meinem Schritt sehr schwergetan. Wir haben ein halbes Jahr nicht mehr miteinander gesprochen. Auch der Kontakt zu meiner Schwester und zu meiner islamischen Gemeinde brach ab. Ich war plötzlich eine große Gefahr, mit der man nichts mehr zu tun haben wollte. Vor vier Jahren hat auch meine Tochter nach langer eigener Auseinandersetzung ihr Kopftuch abgelegt. Wir sind beste Freundinnen. Dennoch lebt jede von uns ihr eigenes Leben. Im Grunde holen wir beide etwas nach, was für unsere Entwicklung zu Erwachsenen nötig zu sein scheint.

STANDARD: In der "taz" schrieben Sie in einem Gastkommentar: "Seither suche ich nach Erklärungen für die Irrtümer, denen ich folgte und die sich mir damals als absolute Wahrheiten darstellten." Was waren die Irrtümer?

Zeynelabidin: Ein Irrtum war, zu glauben, dass Gott von mir verlangt, mich mit vorgeschriebenen Bekleidungsregeln vor anderen zu verstecken und mich dadurch einzuschränken oder sogar in Gefahr zu bringen. Wenn Frauen daran glauben, dass diese Regel eine religiöse Pflicht sei, dann bitte. Aber sie sollen Gott dabei aus dem Spiel lassen, denn wenn Gott und Gottes Wille als Begründung herangezogen werden, dann grenzt ihr Verhalten alle anderen Frauen aus, die gelernt haben, selbst zu entscheiden – ohne eingeredete Ängste. Es ist doch Gott, der mir die Lernfähigkeit verliehen hat! Bestraft er mich jetzt dafür, dass ich erwachsener geworden bin?

STANDARD: "Das Kopftuch unterstützt antiemanzipatorisches und entsolidarisierendes Denken", sagen Sie. Was entgegnen Sie jenen Kopftuchverteidigerinnen, die sagen, das Kopftuch wäre gerade für gebildete Musliminnen auch ein Zeichen der Emanzipation, etwa um sich einen Beruf zu erkämpfen?

Zeynelabidin: Für mich sind das Widersprüche. Eine Frau kann nicht emanzipiert sein und gleichzeitig eine strenge Vorschrift befolgen und sich dabei nur auf die Interpretation einer historischen Begebenheit berufen. Emanzipation ist zukunftsorientiert und analysiert die Gegenwart. Zudem isoliert sich eine Frau mit dieser Aufmachung innerhalb einer Gesellschaft, die ein anderes, diesseitsorientiertes und praktisches Leben kennt und lebt, jenseits von einem Glauben, in dem ein gesetzgebender Gott der Vorschriften existiert. Diese Form von Isolation zwingt gleichzeitig auch zur vermeintlichen Gruppenbildung unter Gleichgesinnten. Dadurch sind diese vielen geistigen Ghettos entstanden, die ich als Heranwachsende in den 60er-, 70er-Jahren mit dieser zunehmenden Ausprägung in Deutschland noch nicht kannte. Ich finde das erschreckend, denn der Glaube sollte nach wie vor Privatsache bleiben. Diese wachsende Gruppe von Frauen mit Kopftüchern trägt ihre uniforme Glaubensvorstellung jedoch auf die Straßen und in die Institutionen mit der Haltung, dass das normal, das heißt zeitgemäß sei. Man stelle sich vor, wir hätten eine Invasion der Nonnen auf unseren Straßen. Nicht, dass ich etwas gegen Ordensschwestern hätte. Ich habe bei den Ursulinen maturiert. Jedoch gehört so etwas hinter Klostermauern. Leben nach religiösen Regeln hat in unserer Gesellschaft seine eigenen Orte. Wie würden Muslime es wohl empfinden, wenn massenweise Menschen mit Kippa oder schwarzen Hüten mit Schläfenlocken herumliefen?

STANDARD: Was hat sich für Sie ganz persönlich durch das Ablegen des Kopftuchs verändert?

Zeynelabidin: Ich kann heute kritisch reflektieren und mir Gehör verschaffen. Vor allem bin ich frei von Ängsten vor einem strafenden Gott, vor Sünde, vor Abhängigkeiten, die mich mit Vorschriften kontrollieren und einschränken wollen. Meine Lebenszeit gehört mir. Ich habe mein Denken und Fühlen befreit und lebe endlich mein eigenes Leben, im Einklang mit meinem Glauben an Gott, der ganz anders ist. (Lisa Nimmervoll, 27.3.2018)