Nicht nur alte weiße Männer malen figürlich, auch jüngere Frauen sind in der Londoner Ausstellung "All too human" zu sehen, etwa Jenny Saville mit ihrem 2003 entstandenen Gemälde "Reverse".

Foto: Courtesy of the artist and Gagosian

Cecily Browns "Boy with a Cat" von 2015.

Foto: Cecily Brown, Foto: Richard Ivey

Francis Bacons "Study for Portrait of Lucian Freud" von 1964.

Foto: The Estate of Francis Bacon. All rights reserved. D ACS, London; Foto: Prudence Cuming Associates Ltd.

Giacometti, Modigliani, Picasso – mit einer Retrospektive nach der anderen widmet sich Tate Modern wichtigen Künstlern des 20. Jahrhunderts vom europäischen Kontinent. Unterdessen versucht das ältere Haus Tate Britain nicht nur, den in seinem Namen enthaltenen Anspruch einzulösen, also britische Größen der jüngeren Kunstgeschichte zu zeigen. Die dortigen Kuratoren sind auch viel stärker daran interessiert, mehrere Künstler unter den Bogen einer Ausstellung zu spannen.

Für das jüngste Beispiel bediente sich Kuratorin Elena Crippa eines Buchtitels von Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches (All Too Human) führt mehr als 100 figürliche Gemälde zusammen, die überwiegend in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden. Unverkennbar knüpft die Ausstellung an ein Kunstereignis von 1976 an. Damals führte der in London lebende amerikanische Maler Ron Kitaj (1932-2007) unter dem Titel Human Clay (Menschlicher Lehm) figurative Gemälde von 48 Londoner Malern zusammen, darunter Berühmtheiten wie Francis Bacon, Lucian Freud und Leon Kossoff, und prägte den Begriff der "Londoner Schule". Explizit wollte Kitaj die figürliche Malerei gegen die damals bestimmende abstrakte Kunst verteidigen.

Drei farbenfrohe Gemälde von Kitaj zieren nun auch Menschliches, Allzumenschliches. Zwei Drittel sind Leihgaben, darunter eine Porträtstudie Lucian Freuds von seinem Freund und Rivalen Francis Bacon. Auf diese Leihgabe aus einer Privatsammlung ist Tate-Britain-Direktor Alex Farquharson besonders stolz, war das Werk doch seit 1965 nicht mehr öffentlich zu sehen.

Bacon und Freud als Herz der Schau

Bacon (1909-92) und Freud (1922-2011) bilden zwar das Herz der Ausstellung, geben aber den Blick frei auf viele andere Talente und deren Beziehungsnetzwerk. "Wie Künstler das Leben in all seiner Intensität gemalt haben", soll gezeigt werden. Dazu zählen viele Aktbilder, darunter so berühmte wie Lucian Freuds Schlaf vorm Löwenteppich, mit der stark übergewichtigen Sue Tilley als Modell. Dass die damals beim Arbeitsamt Beschäftigte während einer Sitzung einschlief, kann kaum verwundern: Freud war berühmt dafür, seine Modelle über Wochen hinweg mit Beschlag zu belegen.

Bacon hingegen ließ sich häufig von Fotografien seines Freundes John Deakin (1912-72) inspirieren. Der Raum Isolierte Figuren versammelt sieben seiner Gemälde aus den ersten zehn Nachkriegsjahren. Warum daneben aber eine der berühmten Frauen von Venedig von Alberto Giacometti (1901-66) steht, einem Schweizer, der nie in London arbeitete, bleibt rätselhaft. Immerhin hat die Beschaffung der einzigen Skulptur in der ganzen Ausstellung wenig gekostet, gehört sie doch zur Tate-Sammlung.

Die Kritik reagierte unterschiedlich auf das Potpourri. "Brillant und unerschrocken", nennt Jonathan Jones die Ausstellung im Guardian, eine "berauschende Bestandsaufnahme", lobt Observer-Kritiker Tim Adams. Hingegen zeigte sich Waldemar Januszczak in der Sunday Times "enttäuscht wie selten": Trotz manch großartiger Werke handele die Schau "von gar nichts".

Londoner Silberrücken

Tatsächlich wird nicht recht deutlich, worin die Gemeinsamkeit der ausgestellten Künstler besteht. Zwei der Räume verdeutlichen immerhin sehr schön den Einfluss zweier Künstler, die an Hochschulen lehrten. William Coldstream (1908-87) prägte Euan Uglow (1932-2000) ebenso wie Freud. David Bomberg (1890-1957) lehrte Dorothy Mead, Leon Kossoff und Frank Auerbach den Umgang mit dem Zeichenstift.

Wie Kossoff und Auerbach ihre Stadt sehen, spiegelt sich in einer Reihe von Gemälden en plein air, ein festliches Menü für London-Begeisterte. Ganz zum Schluss versuchen die Kuratoren noch, ein Gegengewicht zur Kunst der alten weißen Männer zu schaffen: Malerinnen wie Jenny Saville, geboren 1970, oder Lynette Yiadom-Boakye, 1977, setzen die figürliche Tradition fort. (Sebastian Borger aus London, 27.3.2018)