In diesem Sozialbau an der Avenue Philippe-Auguste im 11. Pariser Bezirk ereignete sich der Mord.

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Paris – Mireille Knoll war vom Leben nicht verwöhnt. Die 85-jährige Französin lebte mittellos in einer Sozialwohnung im 11. Arrondissement von Paris und litt unter Parkinson. Als jüdisches Kind hatte sie im Zweiten Weltkrieg die Verfolgungen durch die deutschen Besatzer miterlebt; der größten Razzia der französische Polizei im Vél' d'Hiv', dem Pariser Winter-Velodrom, aus dem im Juli 1942 mehr als 13.000 Juden in die Vernichtungslager deportiert wurden, entging sie ganz knapp durch die Flucht mit ihrer Mutter aus Paris.

Am vergangenen Freitag wurde Mireille Knoll mit elf Messerstichen getötet auf ihrem Bett vorgefunden. Die Wohnung stand in Flammen. Der mutmaßliche Täter wurde schnell gefasst. Es handelt sich um einen 27-jährigen Maghrebiner, der seit seiner Kindheit im gleichen Wohnblock lebte und von der im Viertel als herzensgut bekannten Mireille Knoll "wie ein Sohn" (so ein Familienangehöriger) behandelt worden war. Wegen sexueller Gewalt an der zwölfjährigen Tochter von Knolls Pflegerin hatte er eine Haftstrafe abgesessen. Ein 22-jähriger Obdachloser wurde inzwischen als möglicher Komplize festgenommen. Er soll den Ermittlern erklärt haben, der Täter habe "Allahu Akbar" gerufen.

Nicht der erste antisemitische Mord

Der Fall erinnert an den gewaltsamen Tod einer anderen jüdischen Seniorin: Sarah Halimi (65) war vor einem Jahr in Paris ebenfalls von einem muslimischen Nachbarn misshandelt und über den Balkon in den Tod gestürzt worden. Er habe den "Teufel" ausgetrieben, meinte der westafrikanische Täter, der seither in Haft sitzt. Die Staatsanwaltschaft ging zuerst von einem psychiatrischen oder nachbarschaftlichen Konflikt aus; erst nach Protesten der jüdischen Gemeinschaft wurde eine mögliche antisemitische Motivation in den Tatbestand aufgenommen.

Die Ermordung von Mireille Knoll war in vielen französischen Medien tagelang kein Thema. Die Aufmerksamkeit war zweifellos von dem jüngsten Terroranschlag am Freitag in Carcassonne (Südfrankreich) absorbiert. Trotzdem erhebt der jüdische Dachverband Crif den Vorwurf, dass die Öffentlichkeit die Mordtat in Paris verdränge und das antisemitische Motiv vernachlässige.

Viele neue Antisemiten sind Muslime

Der Antisemitismus hat in Frankreich sein Gesicht gewandelt: Er entstammt nicht mehr wie in den Neunzigerjahren dem rechtsextremistischen Milieu, sondern grassiert vor allem unter muslimischen Jugendlichen. In einzelnen Banlieue-Schulen weigern sich heute Zehn- oder Zwölfjährige, über den Holocaust zu sprechen. Wer die Kippa trägt, riskiert Beschimpfungen und Schläge.

Frankreichs Juden ziehen deshalb, wenn sie es sich leisten können, in die besseren Viertel im Westen von Paris. Rund 40.000 französische Juden – mit einer halben Million Vertretern stellt die jüdische Glaubensgemeinschaft in Frankreich die größte Europas dar – sind im vergangenen Jahrzehnt nach Israel ausgewandert.

Unter den Verbleibenden herrscht Angst – und Verzweiflung: Gerade die sephardischen Juden aus Algerien fühlen sich den muslimischen Maghrebinern kulturell verbunden.

Der Nahostkonflikt und die diversen Intifadas haben aber bis in die Banlieue-Siedlungen Spuren hinterlassen. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 trugen Einwandererkids stolz T-Shirts mit Bin-Laden-Konterfei. Solche Äußerungen sind zwar heute durch neue Gesetze gegen die "Verherrlichung des Terrorismus" verboten. Der Judenhass hat in den Einwandererghettos aber nur noch zugenommen. Die Diskriminierung, die muslimische Jugendliche bei der Job- oder Wohnungssuche erfahren, richtet sich nicht mehr nur gegen Symbole des französischen Staates, sondern zunehmend auch gegen die Juden. Das sei "das Werk der Islamisten", wiederholte der der israelischen Rechten nahestehende Abgeordnete Meyer Habib nach der Ermordung von Mireille Knoll.

Politik ist "bestürzt"

Präsident Emmanuel Macron hat seine Bestürzung über das "scheußliche Verbrechen" geäußert und verspricht seine "totale Entschlossenheit im Kampf gegen den Antisemitismus". Vor wenigen Tagen erst hat sein Premierminister Edouard Philippe ein neues Gesetz vorgestellt, das vorab die judenfeindlichen Hasstiraden im Internet ins Visier nimmt.

Antisemitische Delikte wie etwa Attacken auf Synagogen haben in Frankreich in den letzten drei Jahren insgesamt abgenommen. Doch die physischen Gewaltakte nehmen zu – und offensichtlich gerade auch gegen ältere Bürger. Die jüdische Gemeinschaft hat deshalb für Mittwoch zu einem Protestmarsch in Paris aufgerufen. (Stefan Brändle aus Paris, 27.3.2018)