Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818–1888)

Foto: Raiffeisen/Kurt Ceipek

Es ist noch gar nicht so lange her, als eine Verordnung Zinssätze für Kreditinstitute vorgab. Die Deregulierung in vielen Bereichen der Wirtschaft in den 1980er Jahren – nach den in der Politik Handelnden auch als Phase von "Reagonomics and Thatcherism" bezeichnet –, hat in der Kreditwirtschaft zu einer Hinwendung zum Markt, zu rascheren Veränderungen und neuen Finanzierungsformen geführt. Begleitet wurde diese Entwicklung mit dem Aufbau eines Konzepts für Risiken, der Bewertung und Quantifizierung von Risiken, eingebettet in ein Rahmen- und Regelwerk dafür. Im Bankenbereich entstanden so zum Beispiel Zinsänderungsrisiken, die zugehörigen Absicherungsprodukte und die Anforderungen an das Eigenkapital nehmen zu. Unternehmensanleihen gelten schon seit langem als Alternative für Kredite inzwischen auch bei mittelständischen Unternehmen. Es setzte sich eine ertragsorientierte Sicht auf Banken und Sparkassen durch.

Soziale, individuelle Anteile in der Bankfunktion

Bevor das Verständnis der Kreditinstitute als Institutionen der sicheren Geldverwahrung und des Vertrauens, abgeleitet aus der persönlichen Beziehung zwischen Bank/Sparkasse und Kundin und Kunde, der Förderung des Spargedankens und der Zukunftsvorsorge immer mehr verblasst und durch neue vertragliche Arrangements ersetzt sein wird, erscheint es angebracht, eine rein erwerbswirtschaftliche Sicht auf diesen Finanzintermediär zu relativieren. Denn es ist "das Geld der anderen", also eine soziale Dimension, in der Kreditinstitute handeln, die ihre Tätigkeit auf den Einlagen ihrer Kunden oder sogar ihrer Eigentümer gründen. Anders ist es beim persönlich haftenden Privatbankier, der vor allem eigenes Geld und Vermögen einbringt.

Mit der weltweit eingeleiteten Marktorientierung ginge einiges verloren. Doch warum es erst so weit kommen lassen wie in Großbritannien, wo im Zuge des Community Banking wieder Institutionen für regionale Bankgeschäfte entstehen, wenn es mit den Sparkassen aber auch den Genossenschaftsbanken, insbesondere den lokalen Raiffeisenbanken, in Kontinentaleuropa noch "alternative" Systeme mit institutioneller Vielfalt (eacb.org), regionalem Bezug und ohne Profitmaximierungsdruck gibt?

Niedrigzinsphase fördert Marktorientierung

In der Niedrigzinsphase, in der Einleger keine Zinsen bekommen und Kredite zu niedrigen Zinssätzen vergeben wurden, besteht zudem die Gefahr, dass Einleger auf alternative Anlageformen am Markt ausweichen sollen: Der Renditeaspekt tritt in den Vordergrund, der Bereitstellung von Bankkrediten fehlen allmählich die Einlagen. Diese sollen durch zusätzliches Eigenkapital externer Investoren ersetzt werden. Eine Alternative für die Kreditnehmer bieten Marktplätze wie Crowdfunding-Plattformen oder Emissionen von eigenen Anleihen. Dort investieren Investoren und Kleinanleger auf eigene Gefahr, solange es keine neuen Institutionen des Vertrauensschutzes gibt.

Der Wandel in Richtung mehr Markt, Konkurrenz, Volatilität und Wettbewerb sowie Kooperation nur noch als Gestaltungs- und Überlebensform im Wettbewerb und damit der Übergang zu einer "Risikogesellschaft", einer "Kultur des Scheiterns" bieten durchaus Vorteile, zum Beispiel selbst zu bestimmen, welches Projekt gefördert wird, oder eigene Projekte zu gestalten und zu starten – doch um welchen Preis?

Gesellschaftlicher Reichtum

Identifizieren wir ein regionales Kreditinstitut wie eine Raiffeisen-, Volksbank, Sparkasse oder andere Regionalbank als bewährte Einrichtung, die dem Konsum entzogenes Kapital (Einlagen), oftmals aus einem unselbstständigen Arbeitseinkommen stammend, in Bezug auf die Rückzahlung "sicheren" Investitionsmöglichkeiten zuführt. Dann speist sich der Erfolg für die Sparkasse oder Bank aus dem Ergebnis der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und der Bereitschaft eines ihrer Träger, für den eigenen Kapitalbedarf auf diese Ersparnisse zurückzugreifen und dafür einen Teil des eigenen Erfolges abzugeben. Der Überschuss eines Kreditinstitutes, der in die Rücklagen eingestellt wird, bewahrt diesen Teil für die Zukunft auf.

Deuten wir den in den Rücklagen enthaltenen Gewinn als einen erhalten gebliebenen Anteil am Erfolg der Arbeitsteilung in einer Gesellschaft, so stellen die Reserven eines Kreditinstitutes etwas sehr Soziales, im Sinne einer Zusammenführung von Einzelbeiträgen dar. Umgekehrt greift die Aufhebung eines Kreditinstitutes, wie sie am leichtesten in der börsennotierten Aktiengesellschaft (AG) gelingt, auf diese Ausdrucksform des gesellschaftlichen Reichtums zu und vereinzelt den Erfolg und fordert ein "Mehr" ein. Diesem Druck sehen sich derzeit die in Richtung der AG entwickelten Genossenschaftsbanken in Europa ausgesetzt. Ihre Reserven sind rechtsformspezifisch Generationen übergreifend konzipiert. Es könnte aber sehr bald auch wieder die Sparkassen betreffen. Hier betonen gerade die Sparkassenstiftungen das Generationen übergreifende Element.

Soziale Dimension

Der vom gegenseitigen Vertrauen und vielen sozialen Beziehungen abgeleitete Begriff des Sozialkapitals findet in den Reserven eines Kreditinstitutes einen monetarisierten Ausdruck. Ersetzen der Markt beziehungsweise ein Unternehmen selbst die Bankfunktion, so greifen beide direkt auf dieses Sozialkapital zu und heben eine weitere Institution des gesellschaftlichen Zusammenhaltes zu ihrem individuellen Vorteil und mit neuen Beziehungsformen auf. Dies könnte in der Richtung gelesen werden, dass sich innergesellschaftliche Verteilungs"kämpfe" weiter verstärken. Hier gilt es rechtzeitig ein Bewusstsein zu schaffen und zu entscheiden, ob es die heute noch zahlreichen (H)Orte dieses über die Zeit gewachsenen "gesellschaftlichen Reichtums" auch in Zukunft geben soll. Das Jubiläumsjahr zum 200. Geburtstag von Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818–1888) am 30. März bietet für Diskussionen hierzu einen idealen Rahmen. (Holger Blisse, 30.3.2018)