Fabiano Caruana grübelt erfolgreich.

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Berlin – Jetzt geht es um alles oder nichts. Bei jedem anderen Turnier wären Fabiano Caruana, Sergei Karjakin und Shakhriyar Mamedyarov mit ihrem Score zufriedene Schachspieler: Mit nur noch einer zu spielenden Runde könnten sie bereits jetzt auf ein erfreulich verlaufenes Turnier zurückblicken, bei dem sie in jedem Fall einen der vorderen Plätze belegen werden. Beim Kandidatenturnier in Berlin hingegen ist das alles nichts wert. Es zählt nur der Sieg. Nur der bringt das Match gegen Carlsen, das ja der einzige Grund ist, sich diese vierzehnründigen Tortur überhaupt anzutun.

Caruana schlägt zurück

Theoretisch hat Caruana nun wieder die besten Chancen. Er besiegt in Runde 13 gleichsam auf Befehl Lewon Aronjan in einer Spanischen Partie, die taktisch hochkomplex wird, nachdem der Armenier erzwungenermaßen eine Leichtfigur für ein paar Bauern gibt und plötzlich beide Könige in höchster Gefahr schweben. Caruana findet sich in den Verwicklungen besser zurecht, Aronjan hinterlässt den Eindruck, mit dem Turnier innerlich schon abgeschlossen zu haben und nur noch mit halber Kraft zu kämpfen: Wer will es dem einstigen Turnierfavoriten verübeln, der inzwischen bei – 5 notiert und anderthalb Punkte hinter dem Vorletzten liegt? Mit einem effektvollen Turmopfer sackt der Italo-Amerikaner kurz vor der Zeitkontrolle den vollen Punkt ein, den er nach seiner Niederlage in Runde 12 gegen Sergei Karjakin so dringend benötigt.

Da Karjakin gegen So mit einem raschen Schwarzremis zufrieden ist, liegt Caruana vor der letzten Runde wieder einen halben Punkt vor dem Russen. Aber er hat ein (gravierendes) Problem: In der Zweit-, Dritt- und Viertwertung, die in Berlin bei Punktegleichheit herangezogen wird, liegt Caruana potentiell hinten – und zwar nicht nur hinter Karjakin, der in der finalen Runde im Gegensatz zu ihm die weißen Steine führt. Auch Shakhriyar Mamedyarov hätte nach der sogenannten Sonneborn-Berger-Wertung die Nase gegen ihn vorne. Bei diesem Feinwertungskriterium wird die Anzahl der erzielten Punkte unterschiedlich gewichtet, je nachdem, gegen wen sie erzielt wurden. Gegen erfolgreichere Spieler gemachte Punkte werden höher bewertet. Über die Aussagekraft von Sonneborn-Berger wird unter Schachspielern seit Jahrzehnten leidenschaftlich gestritten. Tatsache ist aber, dass dieses Kriterium in Berlin (nach den erzielten Punkten, dem direkten Duell sowie der Anzahl an Siegen) als Viertwertung herangezogen wird.

Shakhriyar Mamedyarov, der sich in Runde dreizehn gegen einen hasardierenden Alexander Grischtschuk durchsetzt, liegt vor Ultimo auch nur einen halben Punkt hinter Caruana. Da er gegen Karjakin im direkten Duell vorne ist (er gewann in Runde eins mit Schwarz gegen den Russen), würde Punktgleichheit mit seinen beiden Konkurrenten dem Aseri zum Turniersieg reichen. Allerdings müsste er dafür aller Wahrscheinlichkeit nach mit Schwarz gegen Wladimir Kramnik gewinnen. Zwar hat Kramnik in diesem Turnier schon einige Niederlagen auf dem Konto. Im Gegensatz zu Lewon Aronjan hat der Ex-Weltmeister sich aber bis dato nicht aufgegeben. In Runde dreizehn spielt er gegen Ding Liren einen flotten Igel mit Doppelfianchetto, bei dem er bald am Königsflügel vorstößt und den Chinesen gehörig unter Druck setzt. Der verteidigt sich (wie immer) ausgezeichnet, am Ende muss Kramnik das Remis quittieren.

Chinesische Pointe

Was ist die beste Strategie für Fabiano Caruana in seiner Schlussrundenpartie, in der er mit Schwarz gegen Sascha Grischtschuk bestehen muss? Viele würden ihm wohl dazu raten, trotz des Nachteils der schwarzen Steine eine komplizierte Stellung aufs Brett zu bringen, um reagieren zu können, falls Karjakin oder Mamedyarov sich durchsetzen und er einen Sieg benötigt, um vorne zu bleiben. Es bleibt nur zu bedenken, dass genau diese Taktik beim Kandidatenturnier in London 2013 für Magnus Carlsen und Wladimir Kramnik in die Hose ging: Beide verloren letztlich ihre Schwarzpartien, weil sie sie zu riskant angelegt hatten. Carlsen war am Schluss der Lucky Loser.

Womöglich ist Caruana mit einem schnellen Remis daher besser bedient: In diesem Fall lastet der volle Druck auf Mamedyarov und Karjakin. Ding Liren hat bisher in dreizehn Runden keine Partie verloren – warum sollte er in Runde vierzehn gegen Karjakin damit anfangen? Und ein mit Weiß spielender Wladimir Kramnik könnte sich für einen zum Siegen verdammten Shakhriyar Mamedyarov als zu hohe Hürde erweisen. Schließlich weiß Kramnik, dass sein Gegner mit Schwarz riskieren muss und kann den Aseri in aller Ruhe kommen lassen.

Übrigens: Sogar Ding Liren hat bei optimalem Verlauf sämtlicher Schlussrundenpartien noch Chancen auf den Sieg. Und ein chinesischer Herausforderer für Magnus Carlsen wäre keine ganz unstimmige Schlusspointe für dieses fantastische, verrückte Berliner Kandidatenturnier. (Anatol Vitouch aus Berlin, 27.3.2018)