Wittgenstein hoch zu Ross.

Foto: Österreichische Nationalbibliothek

Salonlöwin Berta Zuckerkandl (1886).

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Wien – Österreich, schreibt Karl Kraus im Vorwort der ersten Nummer der Zeitschrift Die Fackel im April 1899, sei ein Land, in dem die Minister nur ein einziges Gesetz, nämlich das der Trägheit, nicht verletzen würden, und es sei ein Ort, an dem zwar über die Aufschrift der staatlichen Spuck näpfe gestritten würde, das Volk aber seine wahren Bedürfnisse nur Priestern als Beichtgeheimnis anvertraue. Insgesamt, so Kraus, handle es sich um ein Reich, in dem die Sonne niemals aufgehe.

Wien war zum Zeitpunkt, als der unbeirrbare Pessimist Kraus sein Vorwort schrieb, eine Stadt im Umbruch. Zwischen 1857 und 1910 hatte sich ihre Einwohnerzahl aufgrund großer Migrationsströme vorwiegend aus dem Osten vervierfacht und die der jüdischen Bevölkerung verachtundzwanzigfacht. Man tat sich in der nunmehrigen Millionenmetropole schwer mit dem Multikulturalismus, wobei neben dem Antisemitismus stimmungsmäßig eine Kombination "von Provinzialismus und Kosmopolitismus, Traditionalismus und Modernismus" vorherrschte, wie Carl E. Schorske im Standardwerk Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle schreibt.

Soziale Auflösung

Doch sei, so der Historiker und Berkeley-Professor Schorske weiter, das "scharf empfundene Beben" der politischen und sozialen Auflösung und Agonie in der krisengeschüttelten Hauptstadt des Habsburgerreiches auch der Humus gewesen, auf dem sich in der Literatur, der Musik, der bildenden Kunst, der Architektur und in der Psychologie Neues oder zum ersten Mal Gedachtes entwickeln konnte. Sich entwickeln musste.

Schorskes bahnbrechende, 1980 publizierte und mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Untersuchung war der Anstoß einer nachhaltigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Zeitspanne zwischen 1890 und ca. 1910, die unter dem Terminus Wiener Moderne zu einer kulturellen Trademark wurde. Dass es sich dabei um ein künstlerisch-wissenschaftliches Laboratorium und um ein soziales Phänomen handelte, zeigt nun auch die Sonderausstellung Berg. Wittgenstein. Zuckerkandl. Zentralfiguren der Wiener Moderne im Literatur museum der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien.

Ob es sich beim Komponisten, Schönberg-Schüler und Adorno-Freund Alban Berg (1885–1935), der Salonière, Memoirenschreiberin und verarmt im Exil verstorbenen Publizistin Berta Zuckerkandl (1864–1945) sowie dem Philosophen Ludwig Wittgenstein (1889– 1951), der das "erlösendende Wort" suchte, tatsächlich um "Zentral figuren" handelt, bleibe einmal dahingestellt. Fakt aber ist, dass sich das feine Netzwerk aus sich kreuzenden Linien zwischen unterschiedlichen Kunstsparten, das die Wiener Moderne kennzeichnet, an ihnen nachvollziehen lässt, und dass das Literaturmuseum in allen drei Fällen herausragende Originaldokumente sein Eigen nennt.

So sind etwa Teile aus Wittgensteins philosophischem Nachlass zum ersten Mal überhaupt zu sehen. Dazu kommen Originalhandschriften zu Wozzeck und Lulu sowie Briefe von Alban Berg, der sich als Musik-Schriftsteller verstand. Interessant auch der Zuckerkandl-Teil, der zeigt, dass sich die Autorin und Netzwerkerin – ihre Schwester war mit dem Bruder des französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau verheiratet – für die politischen Beziehungen zwischen Österreich und Frankreich einsetzte. Nach 1918 verwies sie inständig auf die Strahlkraft einer Wiener Moderne jenseits des Deutsch-Österreichertums.

Naturgemäß gibt es in dieser in einem verdunkelten Raum in den Regalen des ehemaligen Hofkammerarchivs gezeigten Ausstellung viel zu lesen. Man braucht etwas Zeit, um die Schau vollumfänglich zu erfassen, zudem empfiehlt sich der Erwerb des Kataloges mit 16 fundierten Beiträgen, die unter anderem zeigen, dass sich die Wiener Moderne einer jüdisch-bürgerlichen, liberal denkenden Schicht verdankt. Und Menschen, die, wie Schorske schreibt, nicht als Juden Kunst produzierten und konsumierten, sondern als Bürgerinnen und Bürger ihrer Stadt. (Stefan Gmünder, 28.3.2018)