Wenn Michelin ruft, dann kommen sie alle. Sterneköche aus ganz Europa verlassen für zwei Tage ihre Küchen, um an der Michelin-Zeremonie teilzunehmen. Montagabend war es das Castle Garden Bazaar in der Budapester Innenstadt, in dem hunderte Sterneköche zur Preisverleihung des Guides "Main Cities of Europe" geladen waren. Mit strahlend weißen Kochjacken unter dem Arm wurden die Küchenchefs in Bus und Boot zur Eventlocation gebracht.

Es gleicht mehr einem Klassentreffen als einer der wichtigsten Preisverleihungen in der Gastronomieszene. Die Stimmung ist gut, man freut sich, Kollegen und Weggefährten wiederzusehen. Der Aufwand scheint sich also zu lohnen, zumindest aus Sicht der Köche. "Bei uns hat es das damals nicht gegeben. Wir sind nicht einmal angerufen worden, als wir unseren zweiten Stern bekommen haben", sagt Heinz Reitbauer vom Wiener Restaurant Steirereck. Er ist mit Kollegen wie Paul Ivic (Tian) und Silvio Nickol (Palais Coburg) nach Budapest gekommen.

Gruppenfoto der Wiener Küchenchefs, die mit einem neuen Stern ausgezeichnet wurden. Von links nach rechts: Alois Traint (Shiki), Anton Gschwendner (Das Loft), Michelin-Guide-Chef Michael Ellis, Konstantin Filippou (Konstantin Filippou von 1 auf 2 Sterne), Anna Haumer und Valentin Gruber Kalteis (Blue Mustard), Wolfgang Zankl (Pramerl & the Wolf).
Foto: Le Gourmand - Das Genießer-Magazin www.legourmand.de

In Oscarmanier

Wie schnell die ausgelassene Stimmung umschlagen kann, zeigte die Michelin-Vergabe in Paris im Februar, bei der erstmals in der Geschichte des Gourmet-Führers die Sterne für die Frankreich-Ausgabe nach dem Oscarprinzip vergeben wurden. Anders als früher wusste niemand, ob er mit Sternen ausgezeichnet wird oder nicht. Entsprechend groß war die Enttäuschung bei jenen geladenen Köchen, die die Heimreise ohne Auszeichnung antreten mussten. Man wolle Emotionen erzeugen, hieß es aus den Reihen der Verantwortlichen. Das wirkt an gewissen Stellen noch etwas holprig – etwa wenn der internationale Direktor von Michelin, Michael Ellis, bei der Verleihung auf der Bühne betont freundschaftlich ruft: "Kommt, lasst uns noch ein Familienfoto machen!"

Anscheinend will man sich vom konservativen Image des französischen Guides lösen. Kürzlich hat sich das Unternehmen mit der Buchungsplattform Book a Table zusammengetan, man tritt nun gemeinsam auf. Auch an anderen Internetlösungen wird gearbeitet, wie der Strategieverantwortliche Alexandre Taisne erzählt. "Online könnte man wesentlich mehr Infos publizieren. Um eine Bewertung – die Tester füllen mehrere Bögen aus – nachzuvollziehen, ist es wichtig, die Arbeit und die Philosophie des Kochs zu verstehen. Das lässt sich aus ein paar Sätzen nicht herauslesen", sagt Taisne.

Konstantin Filippou mit seiner Frau Manuela am Montagabend in Budapest.
Foto: alex stranig

Auszeichnungen für Wiener Restaurants

Die Philosophie einiger junger Wiener Köche haben die Tester offenbar verstanden, sieht man sich die Auszeichnungen an. Dieses Jahr wurden gleich vier neue Wiener Restaurants mit einem Stern ausgezeichnet. Neben dem Blue Mustard, in dem Anna Haumer und Partner Valentin Gruber-Kalteis vor rund einem Jahr die Küche übernommen haben, und dem Restaurant Das Loft im Sofitel wurde auch das japanische Innenstadtrestaurant Shiki besternt.

Die größte Überraschung dürfte aber der Stern für das reduzierte Konzept von Wolfgang Zankl und dessen Restaurant Pramerl and the Wolf gewesen sein. Dass ein Casual-Fine-Dining-Lokal in einem Wiener Uraltbeisl mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet wird, hätten weder Kollegen noch der Küchenchef selbst geglaubt. "Es ist natürlich eine große Ehre für uns, auch wenn wir niemals damit gerechnet hätten", sagt Zankl, der mit Souschef Florian Vit zur Verleihung angereist ist.

Zwei Sterne für Filippou

Die höchste Auszeichnung für Österreich gab es an diesem Abend für Konstantin Filippou. Sein gleichnamiges Restaurant in Wien wurde mit einem zweiten Stern bedacht. "Das ist eine Bestätigung für das, was wir täglich machen. Ich freue mich nicht nur für mich, sondern auch für meine tollen Mitarbeiter, die einen großartigen Job machen", sagt Filippou. Andere Restaurants durften sich über die Auszeichnung Bib Gourmand (frische Küche mit gutem Preis-Leistungs-Verhältnis) freuen – etwa das Weinbistro Mast oder das Gasthaus Woracziczky in Wien. Bei all der Freude über die Auszeichnungen, ein ungutes Gefühl bleibt, nachdem es hierzulande noch immer kein einziges Dreisternerestaurant gibt. Dass nur Restaurants in Wien und Salzburg bedacht werden, liegt hingegen an der Tatsache, dass es für Österreich seit vielen Jahren keinen eigenen Guide Michelin mehr gibt. Pläne über die Neuauflage sollen aber zumindest im Laufen sein, hört man aus Kochkreisen an diesem Abend. (Alex Stranig, 27.3.2018)

"Man muss vom Essen besessen sein"

Mit Maßanzug, breitem Grinsen und in Begleitung seines Pressesprechers trifft man Michael Ellis (60) rund um die Verleihung des Guide Michelin "Main Cities of Europe" in Budapest. Gemeinsames Mittagessen am Markt, Dinner im ungarischen Sternerestaurant Costas oder Stadtführung. Ellis ist immer dabei, schüttelt Hände, führt Smalltalk, versucht, für gute Stimmung zu sorgen. Seit sieben Jahren steht der gebürtige Amerikaner an der Spitze des französischen Gourmetführers.

Michael Ellis, internationaler Direktor von Guide Michelin.
Foto: Stéphane de Bourgies

Der ehemalige Marketingchef des Mutterkonzerns hat eine wichtige Funktion: Er verantwortet alle Ausgaben des Restaurant-Guides, und er verleiht einmal im Jahr die begehrten weißen Kochjacken mit einem, zwei oder drei Sternen an Spitzenköche aus der ganzen Welt. Die Verleihungszeremonie inszeniert er zu einer großen Show, in der neben den Köchen er selbst der Hauptakteur zu sein scheint. Wir haben ihn vor seinem großen Auftritt zum Interview getroffen.

STANDARD: Sie haben in den letzten Jahren Konkurrenz bekommen, zum Beispiel von der Liste der World's 50 Best Restaurants. Wie heben Sie sich ab?

Ellis: Ich denke, was uns auszeichnet, ist, dass wir professionelle und objektive Restauranttester haben, die Gastronomieexperten mit ausgeprägten sensorischen Fähigkeiten sind. Das kann nicht jeder. Es ist kein Nebenjob oder Hobby. Es ist ein Fulltimejob, in dem man fünf Tage die Woche essen geht und bewertet. Wir betreiben hier einen enormen Aufwand.

STANDARD: Es ist bestimmt ein beliebter Job, den viele machen wollen.

Ellis: Ja, wir bekommen sehr viele Bewerbungen. Viele davon kommen von Leuten, die gerne auf unsere Kosten essen gehen wollen. Das entspricht nicht ganz unseren Vorstellungen eines Testers.

STANDARD: Was qualifiziert einen Michelin-Tester?

Ellis: Um Restauranttester zu werden, muss man besessen sein von Essen, denn das ist das Einzige, das man tut: 250- bis 300-mal mittag- und abendessen im Jahr. Man muss sehr kommunikativ sein, mit den Köchen, den Kellnern und Produzenten sprechen. Fast alle unsere Tester kommen aus der Gastronomiebranche. Viele von ihnen waren davor Köche oder Sommeliers. Für Menschen, die Essen lieben, ist es wahrscheinlich der beste Job, den es gibt.

STANDARD: Wie viele Restaurants haben Sie seit Beginn ihrer Karriere beim Guide Michelin besucht?

Ellis: Ganz genau kann ich das gar nicht sagen. Ich besuche zumindest einmal im Jahr alle Länder, in denen wir Sternerestaurants oder Bib-Gourmand-Restaurants haben. Es werden aber wahrscheinlich mehr als 700 Restaurants sein, in denen ich in den letzten Jahren essen war.

STANDARD: In welchem Land kann man im Moment am besten essen? Wo ist der Gourmet-Hot-Spot?

Ellis: Gut essen kann man auf der ganzen Welt. Wenn man sich die Guides der letzten Jahre ansieht, wird man sehen, dass es kein Land gibt, in dem sich die Gastroszene nicht weiterentwickelt. Das macht unsere Arbeit so spannend, weil sich gerade überall so viel tut.

STANDARD: War das nicht immer schon so?

Ellis: Nein, weil es vor allem in Ländern, die keine traditionelle gehobene Gastronomieszene haben, jetzt plötzlich eine Vielzahl richtig toller Restaurants gibt.

STANDARD: Zum Beispiel?

Ellis: Großbritannien zum Beispiel. Vor 25 Jahren gab es keine moderne britische Küche. Heute haben wir englische Spitzenköche, die in Großbritannien aufgewachsen sind, ihre Lehre da gemacht haben und die Küche revolutioniert haben. Und dieses Phänomen kann man in vielen Ländern beobachten.

STANDARD: Ein Trend, der sich in Europa immer mehr durchsetzt, ist das Konzept des Casual Fine Dinings. Wird das Essen in Spitzenrestaurants in Zukunft ungezwungener?

Ellis: Ja, auf jeden Fall. Köche erkennen, dass es wichtiger ist, für Gäste zu kochen und nicht für Restaurantführer. Dazu müssen sie wissen, was ihre Gäste wollen, denn am Ende des Tages ist es ein Geschäft. Und das funktioniert nur, wenn Gäste zufrieden sind und wieder kommen.

STANDARD: Viele Restaurantbetreiber in Österreich klagen über zu wenig Nachwuchs in der Gastronomie. Gibt es international ein Nachwuchsproblem bei Köchen?

Ellis: Das denke ich nicht. Der Beruf des Koches ist mittlerweile sehr angesehen. Ich kann mich erinnern, als ich meine Ausbildung machte vor 40 Jahren, war man als Koch ein normaler Arbeiter. Heute ist das anders. Köche stehen im Rampenlicht, sie sind Stars.

STANDARD: Das heißt, wer heute berühmt werden will, wird Koch?

Ellis: Ganz so einfach ist es nicht. Man darf bei all der Aufmerksamkeit, die Köche genießen, nicht vergessen, dass es ein harter Job ist. Man hat unregelmäßige Arbeitszeiten, arbeitet sehr viel, und die Bezahlung ist nicht herausragend. Begeisterung und Leidenschaft für diesen Beruf sind wichtig. Leute, die diese Leidenschaft mitbringen, können eine tolle Karriere machen.

STANDARD: Wahrscheinlich ist Ihnen nicht entgangen, dass bei den Michelin-Verleihungen kaum Frauen auf der Bühne standen. Warum gibt es so wenige Sterneköchinnen?

Ellis: Wir haben tolle Spitzenköchinnen, die Dreisterneköchin Anne-Sophie Pic zum Beispiel. Was ich aber immer wieder von Köchinnen höre, ist, dass es sehr schwierig sei, Karriere zu machen und nebenbei ein Familienleben zu führen. Das liegt an den Arbeitszeiten. Außerdem ist der Job körperlich sehr anspruchsvoll. Man steht zwölf bis 14 Stunden in der Küche.

STANDARD: Sie denken, Männern fällt das leichter?

Ellis: Nein, es ist auch für Männer anstrengend. Ich denke, in Zukunft wird es aber immer mehr weibliche Sterneköchinnen geben.

STANDARD: Sie haben bei der letzten Sternevergabe in Frankreich den Modus der Zeremonie geändert. Viele Köche waren eingeladen, aber nicht jeder bekam eine Auszeichnung. Wollen Sie den Oscars Konkurrenz machen?

Ellis: Ich denke, je mehr Leute bei der Zeremonie sein können, desto besser ist es. Aber natürlich kann man nicht alle Köche einladen. Das wären allein in Frankreich mehr als 4.000 Köche.

STANDARD: Wie wählen Sie dann die Köche aus?

Ellis: Wir laden die Köche ein, die eine Auszeichnung bekommen. Und wir versuchen, Köche einzuladen, die dazu passen. Das können ehemalige Kollegen der Ausgezeichneten sein oder auch Mentoren. Wenn man einen Stern oder mehrere bekommt, ist das sehr emotional. Das soll man mit Menschen feiern, die einem nahestehen. Außerdem geht es auch um den Austausch der Köche untereinander.

STANDARD: Was denken Sie über die österreichische Gastronomieszene?

Ellis: Ich liebe die österreichische Küche, sie ist eine der besten Europas – schließlich gibt es 20 Sternerestaurants in Österreich.

STANDARD: Aber kein einziges mit drei Sternen.

Ellis: Das stimmt. Es zeigt aber, wie hart es ist, diese Auszeichnung zu bekommen. In den über 20.000 Michelin-Restaurants weltweit gibt es nur ein paar hundert, die drei Sterne haben.

STANDARD: Anfang des Jahres hat der französische Spitzenkoch Sébastien Bras darum gebeten, seine drei Sterne zurückzugeben. Was denken Sie darüber?

Ellis: Die Sterne sind eine Bewertung. Man kann damit einverstanden sein oder nicht. Zurückgeben wie einen Oscar kann man sie eigentlich nicht. Zum Glück freuen sich aber die meisten Köche über eine Auszeichnung. (Alex Stranig, 27.3.2018)



Die Zwei-Sterne-Restaurants

Wien
Amador
Konstantin Filippou (neu)
Mraz & Sohn
Silvio Nickol Gourmet Restaurant
Steirereck im Stadtpark

Salzburg
Ikarus
SENNS.Restaurant

Die Ein-Sterne-Restaurants

Wien
Blue Mustard (neu)
Le Ciel by Toni Mörwald
Das Loft (neu)
Edvard
OPUS
Pramerl & the Wolf (neu)
SHIKI (neu)
Tian
Walter Bauer

Salzburg
Carpe Diem
Esszimmer
Pfefferschiff

Auszeichnung Bib Gourmand

Wien
O boufés
Eisvogel
Freyenstein
Heunisch und Erben (neu)
Kussmaul (neu)
LABSTELLE
Vestibül
Woracziczky (neu)
Lugeck (neu)
MAST Weinbistro (neu)
Meierei im Stadtpark
Mochi
Petz im Gußhaus


Salzburg
Brandstätter
Gasthof Auerhahn
Goldgasse (neu)
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