Der beste Moment, um im Buffet Siora Rosa einzufallen, ist so gegen halb zehn Uhr vormittags. Wenn Lorenzo Facco den Beinschinken im Brotteig aus dem Ofen zieht, die Brotkruste aufbricht und mit langem Messer und eleganter Bewegung die noch dampfenden Schinkenscheiben heruntersäbelt. So macht der Wirt das täglich, Ruhetage ausgenommen, seit 44 Jahren. Und wenn man das weiß, ist es freilich eine ziemliche Herausforderung, an dem Ecklokal zu besagter Uhrzeit einfach vorbeizugehen. Ganz egal, ob jetzt grad Ostern, Weihnachten oder Ferragosto ist.

Schinken im Brotteig wird täglich gebacken.
Foto: Georges Desrues

"Ich habe gehört, dass der Schinken in Brotteig in früheren Zeiten auch in Triest ein reines Osteressen war", erzählt der erstaunlich rüstige 85-Jährige, während er die warmen Schinkenscheiben auf einen Teller legt und den frischen Kren darüber reißt, den sie hier nicht italienisch "rafano", sondern slawisch "cren" nennen. "Aber persönlich erlebt hab ich es nie. Ich stamme ursprünglich aus Jesolo und kam vor vielen Jahrzehnten als junger Mann hierher. Und schon damals, unter der legendären Signora Rosa, von der ich das Lokal übernahm, gab's jeden Vormittag Beinschinken im Brotteig."

Lorenzo Facco im Signora Rosa beim Aufschneiden des Beinschinkens.
Foto: Georges Desrues

In den einfachen Gasthäusern, die man hier Buffets nennt, aber auch in den Delikatessengeschäften und sogar in den allermeisten Triester Supermärkten ist der Schinken in Brotteig allgegenwärtig. Und zwar so sehr, dass er als kulinarisches Aushängeschild der Stadt gilt. Denn anderswo im Prosciutto-Land Italien ist gekochter und per Hand geschnittener Beinschinken am Knochen – mit oder ohne Brotkruste – weitgehend unbekannt.

Ganzjährig verfügbar

Dass er einst auch hier nur zu Ostern aufgetischt wurde, wissen viele Triester, genau wie Signore Facco, nur vom Hörensagen. Ab wann genau er seinen rituellen Aspekt verlor und sich in eine ganzjährig verfügbare Spezialität verwandelte, ist folglich kaum noch zu bestimmen.

Die "Pinza" war ursprünglich eine rein österliche Spezialität.
Foto: Georges Desrues

Klar ist nur, dass er dieses Schicksal mit der Pinze teilt, die sie hier "pinza" nennen. Eine weitere ursprünglich österliche Spezialität der Stadt, die, im Unterschied zum gekochten und zumeist auch geräucherten Schinken, nicht von nördlich der Alpen importiert wurde, sondern aus dem Friaul stammt. Und sich über die Grenzstadt Görz nach Slowenien, in die Steiermark und weiter nach Wien, Triest und Kroatien verbreitete.

Zeitzeugen

Dass das bereits geraume Zeit her ist, belegt allein schon, dass sich ein Rezept für die Pinza bereits bei Katharina Prato findet. Nämlich in deren Standardwerk "Die Süddeutsche Küche" aus dem Jahr 1893, dessen italienische Ausgabe interessanterweise den Titel "La cucina della mitteleuropa" trägt.

"Mitteleuropa" ist überhaupt ein Begriff, der in Triest eine bedeutende Rolle spielt. Viele der Einwohner der alten k. u. k. Hafenstadt, die man einst auch "Vienna sul mare" nannte, verstehen sich als etwas Besonderes. Als Italiener zwar, aber doch auch als Mitteleuropäer und als buntes Völkergemisch, entstanden während der 600 Jahre dauernden Zugehörigkeit zur Donaumonarchie.

Das alles spiegelt naturgemäß auch die Triester Küche wider, die gleichermaßen geprägt ist vom Mittelmeer wie vom Balkan und von der kulinarischen Kultur nördlich der Alpen, wie das Beispiel des Schinkens als nur eines unter vielen eindrucksvoll belegt.

In der Triester Konditorei La Bonboniera wird die Pinze einmal pro Woche im 200 Jahre alten Holzofen frisch gebacken. Zu Ostern wird der Ofen täglich angeheizt.
Foto: Georges Desrues

Vom Traditionslokal Siora Rosa im Josephinischen Viertel der Stadt, so benannt, weil es unter dem Habsburgerkaiser Joseph II. gebaut wurde, sind es zu Fuß etwa zwanzig Minuten bis zur Traditionskonditorei La Bomboniera im Theresianischen Viertel, dessen Namen sich wiederum auf Kaiser Josephs prominente Mutter bezieht.

Portal und Interieur der 1836 gegründeten La Bomboniera sind charmant altbacken, in der Auslage liegen vor drapierten Vorhängen und auf hübschen Etageren einige altösterreichisch anmutende Aushängeschilder der Triester Konditorkunst. Darunter Sacher-, Linzer-, Dobos- und Pischingertorte, Topfen- und Apfelstrudel, Indianerkrapfen und Pariser Spitz, aber auch der Presnitz, also eine Blätterteigrolle gefüllt mit Trockenfrüchten und Nüssen, die Putizza, südösterreichweit bekannt als Putitze, und eben die Pinza.

"Wir backen die Pinza das ganze Jahr über einmal die Woche und jeweils freitags", sagt Gaetano La Porta, während er die Teiglinge für seine Pinzen auf eine Schaufel legt, bevor ein Mitarbeiter sie in den holzbefeuerten Backofen schiebt. Der ist übrigens des Konditormeisters größter Stolz und eine regelrechte Sensation. Denn schließlich wird alles, was in der Konditorei angeboten wird, in dem besagten, fast 200 Jahre alten Holzofen gebacken.

Hochsaison Ostern

"In der Osterzeit backen wir die Pinzen dann täglich und in verschiedenen Formaten mit bis zu drei Kilogramm Gewicht", fährt der gebürtige Sizilianer fort. Übernommen hat er die Traditionskonditorei vor 23 Jahren und zu dem Zeitpunkt schon ebenso viele Jahre Berufserfahrung mitgebracht. "Natürlich habe ich mich an das Backen mit Holzfeuer erst gewöhnen müssen. Und natürlich auch an die mitteleuropäischen Spezialitäten wie die Pinza", erzählt er.

Während der Osterzeit gibt es Pinzen mit bis zu drei Kilogramm Gewicht.
Foto: Georges Desrues

Ein paar Klassiker der sizilianischen Mehlspeisenküche streut Signore La Porta allerdings auch gerne ein, wie zum Beispiel die gefüllten und knusprigen Teigrollen "cannoli". Oder die "cassata al forno", eine Torte aus Mürbteig, Biskuit und Ricotta, die vermutlich arabischen Ursprungs ist und in Sizilien einst ausschließlich zu Ostern gegessen wurde, bevor auch sie eines Tages ganzjährig erhältlich wurde.

Kann es also sein, dass es mit italienischer Genussfreude zu tun hat, österliche Spezialitäten irgendwann einfach das ganze Jahr über anzubieten? Der Konditormeister La Porta weiß darauf keine Antwort. "Verlangt wird es das ganze Jahr, also machen wir es auch das ganze Jahr", sagt er und zuckt mit den Schultern.

Nun ist gegen eine derartige Entmystifizierung auch nur schwer etwas zu sagen. Selbst wenn Essen immer stark mit Traditionen und Kindheitserinnerungen verbunden ist. Was vermutlich der Grund dafür ist, dass ein Hauch schlechten Gewissens und geradezu katholischen Schuldgefühls aufkommt angesichts der Entweihung dieser beiden so sinnbildlichen Speisen der Ostertafel. Aber was soll's – die Pinze ist frisch und der Schinken noch warm. Außerdem ist ja Ostern. Und danach beginnt gleich wieder die Vorosterzeit. Zumindest in Triest. (Georges Desrues, RONDO, 30.3.2018)

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