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Im Katholizismus kommt erst die Asche, dann das Fasten, das alle Weltreligionen in der einen oder anderen Weise hochhalten.

Foto: AP/Albert Cesare

Essen erhält uns am Leben und ist trotzdem eine Versuchung, der wir ständig widerstehen müssen. Längst nicht mehr nur um unser selbst willen. Zu viel oder das falsche Essen kann sowohl eine Bedrohung für das physische und psychische Wohl des Einzelnen als auch eine Gefahr für den gesamten Planeten bedeuten. Der Verzicht wegen umweltverschmutzender Massenproduktion von Fleisch, Fisch, Getreide oder Milchprodukten ist das modernste Argument für das Maßhalten beim Essen, wenngleich ein schlanker Körper wohl noch immer das weitaus gewichtigere ist.

Wem das doch zu oberflächlich ist, kann die neueren ethischen Komponenten des Fastens immerhin als moralische Behübschung der wahren Körperoptimierungsgründe nutzen: Man praktiziere "Clean Eating" und verzichte daher auf sämtliche Nahrungsmittel mit künstlichen Zusätzen – oder dass man gerade mit einer Detox-Kur entgiftet, klingt doch um einiges rühmenswerter als die schnöde Diät für die Bikinifigur.

Der Geist

Dabei hatte Fasten ursprünglich nichts mit Oberflächlichkeiten zu tun. Die Geschichte des engen Verhältnisses zwischen Selbstdisziplin und Essen beginnt, als so viel Nahrungsmittel da waren, dass man wählen konnte, wie viel und was gegessen wird – und dieser Moment kam für die Menschen zu sehr unterschiedlichen Zeiten. "Wir hatten Jahrhunderte das Problem, dass zu wenig da war, eine Auswahl gab es lange nur für wenige Bessergestellte", sagt der Ernährungsethiker und Gastrosoph Harald Lemke.

Auf dem Weg zur Demokratisierung der vormals "adeligen Lüste" dachten schon die Philosophen der Antike intensiv über das richtige Maßhalten nach. Platon, Xenophon oder Porphyrios hegten die Annahme, dass körperliche Fitness kein Selbstzweck, sondern der geistigen Gesundheit geschuldet sein müsste. Aristoteles kritisierte das "viehische Leben", in dem jegliche körperliche Genüsse Vorrang haben, während das eigentliche Glück doch im geistigen Leben läge, erklärt die Germanistin Anne-Rose Meyer, die kürzlich den Sammelband "Theorien des Essens" (Suhrkamp) mitherausgegeben hat.

Auch Sokrates hat den "gedankenlosen Verzehr", die "geschmacklose Völlerei", scharf kritisiert, die es später im Katholizismus sogar zur Todsünde brachte. Das Streben nach Stärkung des Geistes durch die Kontrolle der körperlichen Gelüste, wie sie in der antiken Philosophie beworben wurde, taucht also beim religiösen Fasten wieder auf – ergänzt durch den Faktor Gott.

Der Glaube

Glaube und Maßhalten fallen bei den Religionen in eins, und die Frömmigkeit kann an strengen Fastentagen noch einmal besonders unter Beweis gestellt werden. Zum Beispiel am Karfreitag. Noch vor wenigen Jahren galt das Leberkässemmerl am Karfreitag im ländlichen Österreich noch als absoluter Tabubruch.

Der Katholizismus ist mit seinem Fastengebot in bester Gesellschaft mit allen anderen Weltreligionen. Seien es die Fastengebote im Judentum vor Pessach oder dem strengen Fastentag Jom Kippur oder der Fastenmonat Ramadan im Islam. Im Buddhismus ist das Fasten hingegen weniger zeitlich eingegrenzt, und die Harmonie mit der Umwelt ist das zentrale Fastenmotiv, während es im Judentum und Christentum mehr um Gedenken, Trauer und den bewussten Verzicht auf irdische Substanzen geht.

Gemeinsam ist aber allen Religionen, dass sie Essensvorschriften als Teil ihres Regelwerks definieren, sagt Meyer. "Religionen stellen beim Essen rigide Normen auf, weil es ein gemeinschaftskonstituierendes Moment hat", sagt sie. Und auch die Distanzierung vom Körper, wie sie schon in der antiken Philosophie thematisiert wurde, ist allen Religionen ein Anliegen, denn "Gott ist eine geistige Realität, keine körperliche", sagt Lemke. "Die Weltreligionen erzählen uns die Geschichte, dass wir nicht in unseren Körpern leben, sondern transzendente Wesen sind, die vom Jenseits kommen und auch dorthin gehen."

Eigentlich ist das eine konsequente Haltung, so Lemke, die allerdings in einer zusehends säkularisierten Gesellschaft in "ihrer Plausibilität immer blasser wird". Facetten des religiösen Fastens fischen sich übrigens auch atheistisch Geneigte raus, entweder wenn sie sich in der Fastenzeit vor Ostern Alkoholabstinenz verordnen oder sich – völlig unabhängig vom Kirchenjahr – im digitalen Fasten üben.

Das Schönheitsregime

Essen, oder besser: nicht essen, kann nicht nur die Fähigkeit zum Glauben, sondern auch die Fähigkeit zur Selbstdisziplin hervorragend zum Ausdruck bringen. Seit dem Fitnesshype in den frühen 1980ern mit Jane Fonda und Aerobic an vorderster Front verheddern sich zunehmend innere Kompetenzen wie Selbstbeherrschung mit dem perfekten Aussehen und werden zur vermeintlichen Kausalität. Für die britische Kulturwissenschafterin Angela McRobbie ist es kein Zufall, dass der Fitnessboom und das verschärfte Schönheitsregime mit dem aufkommenden neoliberalen Zeitgeist zusammenfallen.

Gerade für Frauen sei das alles eine besonders schlechte Mischung, findet auch die britische Psychoanalytikerin und Autorin Susie Orbach, die sich seit 40 Jahren mit den Folgen von Schönheitsidealen befasst. Orbach beschreibt den Körper unserer Zeit als "persönlichen Besitzgegenstand", für den wir selber haftbar seien. Somit wird Essen wie Sexualität, Alkohol oder Drogen, zu etwas, das strenger Kontrolle bedarf. Gelingt die Disziplinierung nicht, beschädigen wir unser ureigenes Produkt "Körper", schreibt Orbach.

Damit beschreibt sie eine Bewegung im Umgang mit Disziplin und Essen, die die bisherigen Motive völlig ins Gegenteil verkehren: Fasten dient nicht mehr dem Zweck, sich vom Körper oder körperlichen Genüssen freizumachen, sondern die Disziplin dient nun einzig dem Körper selbst – er wird zum Beweis der Fähigkeit zur Selbstbeherrschung und so auch zur ständigen Baustelle. Wer offenbar "zu wenig" oder gar nicht an ihm arbeiten will, gilt schon einmal als faul, antriebslos bis unfähig in sämtlichen Belangen. Dicke Menschen kennen diese verbreiteten Vorteile zu Genüge.

Neue Erkenntnisse können dagegen nur wenig ausrichten: beispielweise die, dass vor allem veränderte Umweltbedingungen, weniger Möglichkeiten zur Bewegung plus kalorienreichere Nahrung oder Stoffwechselstörungen zum weitaus größeren Teil für Adipositas verantwortlich sind als die scheinbare Disziplinlosigkeit dicker Menschen. Einer repräsentativen Umfrage in Deutschland, Großbritannien und den USA zufolge bleibt die vorherrschende Meinung bestehen: Der Einzelne ist schuld, trägt die volle Verantwortung für seinen Zustand und müsste demnach auch medizinische Behandlungskosten als Folge seines Übergewichts selbst tragen.

Die Ethik

Verantwortung ist heute ein zentraler Begriff im Diskurs ums Essen: Verantwortung der Umwelt gegenüber, den Tieren, der eigenen Gesundheit wegen. "Viele nehmen Essen immer mehr als Problem wahr – zu Recht", sagt Lemke, breite Debatten wie die um das Pestizid Glyphosat würden unser Verhältnis zum Essen stark beeinflussen und die gesellschaftliche Beschäftigung mit Essen politisieren.

Dass man mit fleischreicher Ernährung eine deutlich schlechtere Klimabilanz hinterlässt als mit vegetarischer oder veganer Ernährung, ist heute weitverbreitetes Wissen. Wer seinen ökologischen Fußabdruck auf Websites von Umweltschutzorganisationen bemessen will, muss neben Fragen zum Wohnen oder Mobilität auch seine Essgewohnheiten reflektieren. Wie oft esse ich Eier, Fleisch oder Meeresfrüchte? Was davon ist bio? Während Umweltbewusste in den 1980ern vor allem mit der Verpackung von Lebensmitteln und deren richtigem Recycling beschäftigt waren, dringt die Verantwortung heute bis in intime Lebens- und Essgewohnheiten vor.

Kommt die Idee, dass Fasten vor allem einen intellektuellen und keinen körperlichen Zweck hat, also wieder zurück? Ja, ist Anne-Rose Meyer überzeugt. "Die geistigen Ideen, die früher etwa über die Religion vermittelt wurden, kehren durch politische und ethische Überlegungen wieder." Wer sich etwa vegan ernährt, dem geht es nicht nur um Selbstdisziplinierung, sondern auch darum, sich im Sinne einer bestimmten Ethik zu ernähren. Mit dem Verzicht verdeutliche man eine gewisse Lebenshaltung. Schon in der Antike plädierte Porphyrios für das Maßhalten zugunsten eines ausgewogenen Zusammenspiels aus "Lebenskunst", "Selbstsorge" und "Harmonie mit der Umwelt" – und das klingt erstaunlich aktuell. (Beate Hausbichler, 29.3.2018)