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Sexuelle Übergriffe und Gewalt gegen Kinder und Jugendliche – endlich auch die Opfer mehr in den Blick nehmen.

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Erst vor wenigen Wochen sagte der Gerichtssachverständige Reinhard Haller in einem STANDARD-Interview, dass heutzutage bei Sexualstraftaten "die Opfer und deren Leid im Mittelpunkt des Interesses" stehen würden. Nicht nur die aktuell diskutierten Freisprüche am Landesgericht St. Pölten zeigen, dass die Justiz in Österreich davon noch weit entfernt ist. Es stimmt zwar, dass Opfern und ihrem Erleben heute mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als früher. So haben Opfer von Gewalttaten in Österreich – von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt – seit 2006 das Recht, in einem Strafverfahren kostenlose psychosoziale und anwaltliche Unterstützung zu erhalten. Kinder und Jugendliche, die sexuelle oder körperliche Gewalt erfahren haben, erhalten das Angebot der Prozessbegleitung in Kinderschutzzentren und anderen spezialisierten Einrichtungen für Kinder und Jugendliche.

In der Arbeit mit diesen jungen Opfern müssen wir regelmäßig feststellen, dass ihr Erleben zumindest für die Justiz keineswegs "im Mittelpunkt" steht, wie Haller meint. Zwar hat sich in den letzten Jahren an unseren Gerichten einiges in Hinblick auf Opferschutz getan, Strafverfahren sind aber immer noch alles andere als kindgerecht – mehrfache Befragungen von möglicherweise traumatisierten jungen Opfern wie im St. Pöltner Fall sind nur ein Beispiel dafür. Diese schwierigen Bedingungen nach der Tat stellen eine zusätzliche Belastung und manchmal auch eine Retraumatisierung für Opfer dar. Dies wird oft übersehen, vor allem wenn – so wie es derzeit der Fall ist – von der Politik härtere Strafen für Täter eingefordert werden.

Auch das kann aus dem aktuellen Fall gelernt werden: Das große Problem bei der Verfolgung von Gewalt an Kindern und Jugendlichen ist nicht, dass die Strafen zu niedrig sind, sondern dass die wenigsten Fälle mit einer Verurteilung enden. Dies kann an Widersprüchen in der Aussage des Opfers liegen, oft entscheiden Gerichte aber auch, dass die Aussage eines Kindes aufgrund seines Entwicklungsstandes nicht als Beweismittel heranzuziehen ist. Noch häufiger sagen die Opfer aus Angst oder Scham gar nicht gegen die Beschuldigten aus, vor allem, wenn es sich um ihnen nahestehende Personen handelt. So ist auch Reinhard Hallers Einwand der Falschanzeigen bei sexueller Gewalt zu relativieren: Sie mögen bei Kindern und Jugendlichen im Einzelfall vorkommen, doch viel häufiger kommt es trotz real vorgefallener Gewalt zu Verfahrenseinstellungen oder Freisprüchen.

Justiz braucht Aussagen

Haller mahnt, dass Rache "mit Augenmaß" erfolgen solle. Die meisten Mädchen und Burschen, die Opfer von Gewalt und Missbrauch werden, wollen keine Rache. Sie wollen häufig auch keine Anzeige und kein Gerichtsverfahren. Die Justiz braucht sie, weil ihre Aussage für die Strafverfolgung relevant ist. Opfer wollen sich nicht rächen, vielmehr wollen sie ernst genommen und mit Respekt behandelt werden und das Gefühl haben, dass ihre Sache gerecht verhandelt wird. Sie wollen, dass anerkannt wird, dass ihnen Leid und Unrecht widerfahren ist. Sie wünschen sich, dass die Täter die Wahrheit sagen und Verantwortung für ihre Taten übernehmen.

Der Staat soll das Verhalten des Täters sanktionieren, um zu zeigen, dass Kinder so nicht behandelt werden dürfen, aber drakonische Strafen wünschen sich Kinder nur selten. Der Wunsch nach Rache entsteht eher dann, wenn Opfer oder deren Angehörige das Gefühl haben, dass ihre Bedürfnisse und ihr Leid von der Justiz und der Gesellschaft nicht gesehen werden.

Dass nun eine Welle der Empörung über die Freisprüche von Sankt Pölten durch die Öffentlichkeit geht, kann als Akt der Solidarität mit dem Opfer verstanden werden, vielleicht auch als Solidarität mit Opfern sexueller Gewalt im Allgemeinen (wie sehr die Empörung mit der Herkunft der Täter zusammenhängt, soll hier nicht diskutiert werden). Die Medien und die Öffentlichkeit haben nun darauf zu achten, das Opfer nicht erneut bloßzustellen und zu beschämen, indem sie höchst intime und sensible Details aus dem Leben eines Menschen öffentlich machen und für eigene Zwecke instrumentalisieren. Auf diese Weise kann Gerechtigkeit nicht wiederhergestellt werden.

Im Rahmen der Prozessbegleitung versuchen wir Mädchen und Burschen zu vermitteln, dass Recht und Gerechtigkeit oft zwei sehr unterschiedliche Dinge sind. Wir stellen ihr Erleben und ihr Leid in den Mittelpunkt. Wir setzen uns dafür ein, dass ihre Opferrechte im Verfahren gewahrt werden und dass neuerliche belastende Erfahrungen für das Opfer nach Möglichkeit vermieden werden. Wir versuchen aber auch, mit dem Opfer gemeinsam zu verstehen, dass die Gerichte nicht willkürlich entscheiden, sondern gewisse Verfahrensgrundsätze einhalten müssen und ein gerechtes Urteil anstreben, auch wenn es für uns ungerecht und nicht nachvollziehbar erscheinen mag.

Wenn all diese Ziele nicht nur Anliegen von Opferschutzeinrichtungen bleiben, sondern auch von Staatsanwaltschaften und Gerichten geteilt werden, dann würden die Opfer tatsächlich im Mittelpunkt des Interesses stehen. (Barbara Neudecker, 29.3.2018)