Models in Bedrängnis: Die aktuelle Werbekampagne von Balenciaga wirkt wie eine Inszenierung aus einer anderen Zeit – als der Star noch ein mythisches Wesen war und von Paparazzi gejagt wurde.

Foto: Balenciaga
Foto: Balenciaga
Foto: Balenciaga

Inzwischen hat Popstar Britney Spears (36) ihre Mitte gefunden, sie malt gern naive Blumenbilder. Das war nicht immer so, das Jahr 2007 ging in die Popgeschichte als "Infamous Breakdown" ein. Nach einer unschönen Scheidung, dem Sorgerechtsstreit um ihre beiden Söhne und Kurzaufenthalten in Entzugskliniken wurde Britney von den Paparazzi förmlich gejagt.

Sie waren live dabei, als sie sich eine Glatze scherte, und schossen ein ikonografisches Bild, als sie außer Rand und Band mit einem Regenschirm das Auto eines Fotografen attackierte. Fast schon prophetisch hatte die Sängerin drei Jahre zuvor in ihrer Ballade "Everytime" eine gehetzte Diva gespielt, die gerade eine Krise mit ihrem Freund hat und von der Fotografenmeute gestellt wird. Die Paparazzi sehen mit ihren verzerrten Gesichtern wie Raubtiere aus. Der Star als in die Enge getriebene Beute. Blitzlichtkrieg in Hollywood.

Lady Gaga über "Paparazzi"

2009 schien sich die Lage schon deutlich entspannt zu haben. Oder vielleicht drängten einfach nur Popstars anderen Zuschnitts auf den Markt. Lady Gaga wollte in ihrem Song "Paparazzi" bloß, dass sich die Fotografen in sie verlieben. Es geht um die Symbiose zwischen einem Star, der für Ruhm alles tut, und dem Fotografen, der ihm mediale Präsenz garantiert: eine gefährliche Beziehung, aber auch eine nützliche Wirt-Parasit-Situation, die man pragmatisch nutzen kann.

Lady Gaga: "Paparazzi"
LadyGagaVEVO

In den 2000ern begann sich ohnehin massiv zu verändern, was wir als inszeniert und was als privat empfinden. In der Dokusoap "The Simple Life", die erste Staffel startete 2003, mussten die verwöhnte Hotelerbin Paris Hilton und ihre Freundin Nicole Richie 30 Tage ohne Geld und ohne Luxus auskommen. Nichts zu können, aber dabei gut auszusehen wurde zu einem neuen medialen Erfolgsrezept. Man brauchte gar keine Paparazzi mehr, um sich bloßzustellen. Das Reality-TV begann diese Rolle zu übernehmen.

Zehntausende Selfies

Mittlerweile ist jeder, der ein Handy besitzt, ein potenzieller Paparazzo. Aber warum andere fotografieren, wenn man selbst im Zentrum stehen kann? Durchschnittlich 25.700 Selfies machen Millennials angeblich in ihrem Leben. Bei diesem Bilderüberschuss ist der Paparazzo eine aussterbende Gattung. Sogar Paris Hilton meinte kürzlich: "Es ist so einfach geworden, berühmt zu sein. Jeder, der ein Telefon besitzt, kann es schaffen."

It-Girl Hilton war die Kim Kardashian West der Nullerjahre, sie prägte mit ihren Selfies ein Jahrzehnt. Der gestressten Britney gab sie den Rat, lieber zu lächeln, als den aufdringlichen Fotojägern den Mittelfinger zu zeigen. Jede Presse ist gute Presse: Hauptsache präsent, egal womit, war ihr Motto. Die damals noch unbekannte Kim Kardashian, die bei ihr als Assistentin in die Lehre ging, lernte schnell. Heute ist Kim die amtierende Königin des Internets mit 107 Millionen Abonnenten auf Instagram (Hilton hat nur 8,4 Millionen). "Hilton mag ja das Selfie erfunden haben", schreibt das Magazin "The Cut", "aber Kardashian West hat sogar ein Buch darüber geschrieben."

Aber was hat das mit Mode zu tun? Die aktuellen Werbekampagnen von Balenciaga und Yeezy reflektieren das komplexe Verhältnis von Selbst- und Fremdinszenierung in Bildern. Balenciagas Frühling/Sommer-Lookbook zeigt Schnappschüsse von Models in Bedrängnis: Frauen, die ihre übergroßen Taschen schützend vor das Gesicht halten, Bodyguards, die ihre Klienten abschirmen. Diese dramatischen Aufnahmen wurden tatsächlich von einem Paparazzi-Fotografen geschossen. Sie wirken wie Inszenierungen aus einer anderen Zeit, beinahe nostalgisch. Als der Star noch ein mythisches Wesen war, das sein Privatleben zu schützen versuchte.

Mittlerweile ist das Gegenteil der Fall: Wir sind übersättigt von den vielen "Privatbildern". Die Kardashians sind berühmt dafür, jede Sekunde ihres Daseins in sozialen Medien und Realityshows zu dokumentieren, von der Geburt eines Kindes über die Geschlechtsumwandlung bis zur Ehekrise.

2000er-Ästhetik

Auf die Mode umgelegt, ist wahrscheinlich auch das aktuelle 2000er-Revival (Comeback der Fischerhüte, Trucker-Caps, des V-Neck-Shirts und der Farbe Pink) an dieser Paparazzi-Retroästhetik schuld. Nicole Richie wurde bereits 2006 für eine Jimmy-Choo-Werbekampagne von Fake-Paparazzi bedrängt. Fast scheint es: Je rasanter echter Glamour verschwindet, desto verzweifelter wird er reinszeniert. Wenn jeder Depp ein Star sein kann, dann sind Paparazzi, die einen verfolgen, schon wieder Garanten für "echten" Ruhm.

Der US-Rapper und Hobbydesigner Kanye West drehte die Schraube weiter. Für seine Yeezy Season 6 gab es keine klassische Modenschau, sporadisch tauchten im Internet Paparazzi-Fotos auf, die seine Frau Kim zeigten, wie sie mit einem Coffee to go aus einem Auto steigt oder gerade von McDonald's kommt. Virtuelle Alltagsbilder, banal und nichtssagend, aber gerade dadurch interessant. Kim trug die neue Kollektion von Kanye, die Aufnahmen waren eine gezielte Werbeaktion, die heuer noch einmal getoppt wurde.

Plötzlich tauchten im Internet dieselben Motive auf, aber irgendetwas stimmte nicht. Promis wie Paris Hilton stellten den Kim-Look eins zu eins nach. Die Kopie der Kopie der Kopie: postmoderne Ironie, bei der wir gar nicht mehr feststellen können, was echt und was gestellt ist. In Zeiten von Fake-News ein doppelbödiger Kommentar: Sind wir nicht alle ein wenig Kim? Unsere eigenen Paparazzi, Jäger und Gejagte in einem. (Karin Cerny, RONDO exklusiv, 20.4.2018)


Weiterlesen:

Fotokünstler auf Instagram: Ein Selfie geht immer