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Durch die Bank gewinnbringend: ein Frankfurter Stillleben aus dem Zentrum des Finanzmarkts.

Foto: Reuters / Kai Pfaffenbach

Wien – Das möglicherweise nicht nur dem Alter geschuldete Gefühl, dass alles den Bach runtergeht, ist grundsätzlich nicht ungewöhnlich. Obwohl es uns allen so gut gehen könnte, geht es uns also schlecht. Die Menschen da draußen werden immer lauter. Sie machen keinen Platz. Sie rempeln, rülpsen, essen stinkende Pizza in der U-Bahn, tragen das Handy vor dem Gesicht, aber kein Deo. Und sie überfahren uns mit hochgetunten Bayerischen Mistwägen. Weil wir uns alle so sehr selbst hassen, schaffen wir gegenwärtig über die Ausländerfeindlichkeit das eigene Sozialsystem ab. Ist doch nicht unsere Schuld! Wir halten auch die rechte Backe hin, wenn wir uns dafür nur selbst eine in die Goschen hauen dürfen. Ist versprochen.

Sagen wir so, mit dem Klaffen der Einkommensschere und all den Heuschrecken an der Börse, die sich jetzt nach Jahren der lästigen Bankenregulierungen langsam endlich wieder ein wenig erholen, ist so etwas Ähnliches wie ein Staat heutzutage mehr denn je rein auf Geld gebaut. Dieses wird von immer weniger Leuten besessen. Die acht reichsten Menschen der Welt, so werden wir lesen, akkumulieren mehr Vermögen als die gesamte ärmere Hälfte der Erdbevölkerung.

Politischer Visionär aus Überdruss und Langeweile

Wieder einmal sind wir gerade dabei, die ganze Misere, in die wir uns selbst ohne Not gebracht haben, mit tüchtig verbaler Folklore zu übertünchen: Volk, Heimat, Pfandflasche, Sonntagsbraten, Leistung, Fleiß, Autobahnen, der goldene Bundesadler ...

Wie heißt es gallig in Alexander Schimmelbuschs Hochdeutschland (Tropen-Verlag): "Es würde darum gehen, mit dieser Motivik unbemerkt an die Antagonismusrezeptoren in den aufgebrachten Hirnen anzudocken, um wie Methadon ein Verlangen zu befriedigen, ohne den betreffenden Wirkstoff zu verabreichen – ohne sich inhaltlich also jemals von einer moderaten Mainstream-Meinung zu entfernen."

In Hochdeutschland lässt Alexander Schimmelbusch als selbst früher die Welt nicht unbedingt verbessernder Investmentbanker in London (und als Sohn des früheren Vorstands der deutschen Metallgesellschaft AG, Heinz Schimmelbusch) einen zu nur wenig Empathie fähigen Frankfurter Finanzhai namens Victor ein wenig aus Langeweile und Überdruss zum politischen Visionär werden. Nach Jahren als Teilhaber und Analyst einer Privatbank hat er es zu einem Millionenvermögen gebracht, einer Exfrau und einem Kind, diversen pflichtschuldig, aber leidenschaftslosen Liebschaften und einer Meisterschaft darin, besonders auch staatliche Institutionen übers Ohr zu hauen.

"Warum ölte niemand eine Guillotine?"

Gerade eben hat Victor es mittels Kundenhypnose und Guru-Sprech doppelt gewinnbringend geschafft, ein Pumpspeicherkraftwerk im Schwarzwald, das er zuvor an irgendwelche texanischen Bauernlümmel verhökert hatte, von diesen wieder "strategisch sinnvoll" zurück in den gemeinnützigen Besitz des Landes Baden-Württemberg zu bringen. Wenn man einem zuständigen Minister erfolgreich erklärt, dass der Ausverkauf öffentlichen Guts erst dann Sinn ergibt, wenn man ihn für gutes Geld zurückerwirbt, werden die Herausforderungen an das eigene Genie natürlich etwas spezieller.

Victor ist schon lange davon angewidert, dass sein an einer kollektiven Angststörung leidendes "deutsches Volk" nicht einmal aufgrund der Finanzkrise und der eklatanten Umverteilung von unten nach oben bereit oder dazu in der Lage ist, auf die Barrikaden zu steigen: "Wo waren die roten Fahnen, wo waren die Mistgabeln? Warum ölte niemand eine Guillotine?" Victor erarbeitet ein radikales, populistisches, auf einem "entschlossenen Wir" basierendes Manifest für einen Staat namens "Deutschland AG", in der es der Mittelklasse so richtig schön liberal, aber auch nationalistisch gutgehen soll.

Dass die ganze Sache schließlich auch über das bewährte Bild vom Boot, das voll ist, über die Ausgrenzung und Anhaltelager in Nordafrika politisch von Erfolg gekrönt sein wird, muss nicht extra betont werden. Immerhin aber wird ein assimilierter, braver, türkischstämmiger Politiker zum Kanzler gewählt werden. Diese Horrorvision eines hessischen American Psycho in der Mitte von Bret Easton Ellis, Michel Houellebecqs Unterwerfung sowie der betulichen wie brüllend-komischen Resignationsprosa des Frankfurter Autors Wilhelm Genazino ist nicht nur der Roman der Stunde. Wenn man zu Ende gelacht hat, kann man dann auch endlich anfangen, über die Zeit, in der wir leben, bitterlich zu weinen. (Christian Schachinger, 30.3.2018)