"Ich war einmal Investmentbankerin, jetzt bin ich DJane. Dazwischen liegen zehn Jahre. Wie es dazu kam? Dafür muss ich ausholen.

Mir wurde quasi in die Wiege gelegt, dass Leistung zählt. Mein Vater hat sich zum Oberarzt der Chirurgie hochgearbeitet. Er war stolz auf seinen Doktortitel und auf das Ansehen seines Berufes. Meine Mutter, eine Lehrerin, hatte als Erste in der Familie studiert. Mein älterer Bruder ist Doktor der Biochemie. So entwickelte ich eine Art inneren Anspruch, in allem sehr gut, wenn nicht die Beste zu sein. Das wandte ich auf alles an, was ich tat: in der Schule, beim Sport, beim Klavierspielen. Ich lernte, dass es um das Resultat ging, nicht um das Gefühl dabei.

Wohl auch deshalb ging ich auf eine der zu dieser Zeit renommiertesten BWL-Unis in Deutschland, eine 'Eliteuni'. Das Studium war anspruchsvoll und kaum zu bewältigen für eine Perfektionistin wie mich. Ich war plötzlich nur noch Mittelmaß statt wie gewohnt Überfliegerin. Die Mühe wurde aber belohnt – Topfirmen kamen an die Uni, um um uns zu werben. Das Leistungsmotiv wurde weiter genährt – ich war beflügelt von den Karrierechancen.

Zunehmend demotivierter

Ich spezialisierte mich auf Finanzen und fing nach meinem Abschluss bei Merrill Lynch in London zu arbeiten an. Ich hatte es geschafft, ganz oben mitzuspielen. Mit 22 Jahren begann ich meinen Job als Investmentbankerin mit einem Einstiegsgehalt von rund 100.000 Euro im Jahr.

Aber schon nach wenigen Wochen fühlte ich mich zunehmend demotivierter. Immer unwilliger ging ich in die Bank. Was war los?

Im Nachhinein kann ich es nur so erklären: Während mein Kopf die ganzen Jahre mit dem Erbringen von Leistung beschäftigt war, passierte noch etwas: Ich lernte mehr von der Welt kennen. Bei Auslandssemestern in Dublin und Brüssel genoss ich zum ersten Mal das Leben drum herum, konnte Party machen, Kultur erleben. Auf einer Reise als Backpackerin durch Neuseeland lernte ich entspannte Menschen und eine inspirierende Lebensweise kennen.

In London, einer unglaublich facettenreichen Stadt, nutzte ich meine freie Zeit, um viel zu erkunden. Ich sog alles, was ich verpasst hatte, in mich auf wie ein Schwamm. Unter der Oberfläche wuchs eine andere Annie heran, eine mit Neugierde, Abenteuerlust und Feierlaune.

Kopf-Ich und Bauch-Ich

Zum Zeitpunkt des Jobeinstiegs gab es also mein Kopf-Ich, die Businessfrau, und mein Bauch-Ich, das sich immer mehr entfalten wollte. Zunächst spürte ich keinen Konflikt durch diese entgegengesetzten Pole, im Gegenteil fühlte ich mich dadurch gestärkt. Wie eine "coole Bankerin" , die sich nicht vom System einlullen lässt. Ich wohnte in einer Siebener-WG, ging viel weg. In den Arbeitspausen rauchte ich selbstgedrehte Zigaretten. Ich passte mich nicht mehr dem Dresscode an, trug etwa ein rotes Kleid mit weißen Punkten.

Es half alles nichts – ich fühlte mich eingeengt im goldenen Käfig der Investmentbank. Nach nur sechs Monaten kündigte ich – das war unheimlich befreiend.

Annie O.: "Ich bin als DJane sehr vielseitig und anpassungsfähig – spiele an einem Tag bei einem Firmenevent im Hilton-Hotel oder im Jüdischen Museum, am nächsten Tag dann auf einer schwulen Fetischparty."
Foto: Simon Smith

Nach meiner Kündigung verlief alles komplett planlos. Das Leistungsmotiv war gebrochen, ich ließ mich treiben. Plötzlich verspürte ich den starken Drang, Schlagzeug zu spielen. Ehe ich mich versah, gründete ich eine Band namens Rotkäppchen, die für die nächsten Jahre zu meinem Lebensinhalt wurde.

Die Musik brachte längst nicht genug Geld ein, also hielt ich mich mit diversen Nebenjobs über Wasser. Einige hatten noch etwas mit BWL zu tun, zum Beispiel Onlinemarkting oder PR, zeitweise arbeitete ich auch in Cafés oder für sechs Pfund die Stunde im Topshop am Oxford Circus. Auch bei meiner Band war langsam die Luft raus, sodass ich mich umorientieren musste. Ich beschloss, allein als DJane in Berlin weiterzumachen.

Ich lebe komfortabel davon

Die Entscheidung war blauäugig, ich häufte einige Zeit einen Berg Schulden an.

Aber es ging bergauf. Die Auftritte wurden mehr, und heute lebe ich ziemlich komfortabel davon. Ich lege im Schnitt zwei- bis dreimal die Woche auf. Ich bin als DJane sehr vielseitig und anpassungsfähig – spiele an einem Tag bei einem Firmenevent im Hilton-Hotel oder im Jüdischen Museum, am nächsten Tag dann auf einer schwulen Fetischparty. Langweilig wird es nie.

Ich mache mein eigenes Booking, mein eigenes Marketing, buche meine Reisen, erledige mein Accounting selbst. Diese Tätigkeiten machen mir tatsächlich genauso viel Spaß wie das Auflegen an sich – die BWLerin ist wohl nicht so einfach totzukriegen.

Mein privates und mein berufliches Ich sind mittlerweile eine Person geworden. Geplant war es nicht, DJane zu werden. Da sich mein Arbeiten nach meinem Leben richtet und nicht anders herum, kann sich mein Beruf auch jederzeit wieder ändern.

Es gibt zum Beispiel noch ein anderes großes Interesse in meinem Leben: Psychologie. Vor zwei Jahren habe ich ein Studium begonnen und schreibe mittlerweile auch Audiosessions für eine Entspannungs-App. Da geht es um Themen wie Meditation, Entspannung, Schlaf, Kommunikation oder Zeitmanagement.

Ermutigung zu hinterfragen

Mein Weg wäre nicht für jeden richtig. Ich sage also nicht, dass jetzt jeder seinen Job schmeißen soll oder dass Banken blöd sind oder dass Vollzeitjobs blöd sind, überhaupt nicht. Jeder hat unterschiedliche Bedürfnisse, manche etwa nach Sicherheit.

Daher liegt mir nur eins am Herzen: nämlich die Ermutigung. Die Ermutigung zu hinterfragen, ob sich das, was man tut, stimmig anfühlt. Oder ob man sich selbst vielleicht bis zu einem gewissen Grad etwas vormacht, vielleicht ein Ideal verfolgt oder sich inneren Regeln und Zwängen unterwirft. Auf sein Bauchgefühl zu hören zahlt sich aus. Wer weiß, wo es einen hinführt." (Protokoll: Lisa Breit aus Hamburg, 31.3.2018)